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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Obdachlosen zitiert. Aus dem Zoologischen Garten, versicherte der von der Presse und den Behörden befragte Direktor, seien jedenfalls keine Tiere verschwunden, aber, so mutmaßte er, es könne natürlich durchaus sein, dass die Passanten streunende Hunde gesehen hätten. Die großen Tiere seien alle in dem Straßengewirr zwischen Kurfürstendamm und Tiergarten gesichtet worden, es gab gleich mehrere Augenzeugenberichte.
    Vesper löste den Blick von der Zeitung. Die Wolken am Himmel schienen mit einem Mal schwerer, das Licht des Tages gedämpfter, die Luft eisiger zu sein.

    »Wölfe«, wiederholte sie nachdenklich.
    Etwas, was tief verborgen in ihrem Vergessen überlebt hatte, fiel ihr wieder ein. Etwas, was Maxime Gold einst seinen beiden Töchtern mit auf den Weg gegeben hatte.
    Jahrelang hatte sie nicht mehr an diesen Ratschlag gedacht, doch jetzt hörte sie ihn wieder.
    »Wenn uns einmal etwas passieren sollte«, hatte ihr Vater ihnen eingeschärft, als ihre Schwester und sie noch kleine Mädchen gewesen waren, »dann achtet auf die Wölfe.«
    »Auf die Wölfe?«, hatten sie beide daraufhin gefragt.
    »Ja«, hatte er geantwortet, »denn wenn die Wölfe kommen, dann müsst ihr beiden euch wirklich vorsehen. Vergesst das niemals!« Maxime Gold hatte seine beiden Töchter ernst angeschaut und nicht eher Ruhe gegeben, als bis beide brav genickt und ihm versichert hatten, sie würden sich vor den Wölfen in Acht nehmen.
    Vesper wandte den Blick von der Zeitung ab.
    Sie verspürte eine neue Unruhe, die nach Angst schmeckte.
    In banger Erwartung spähte sie in die Straße hinein, beobachtete die Häuser, die Hecken, alles. Kein geheimnisvoller Mantelmann an diesem Morgen, niemand zu sehen.
    Dennoch fühlte sie sich verfolgt.
    Es war nur ein Gefühl, nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
    »Niemals, niemals«, hörte sie die Stimme ihres Vaters, »dürft ihr vergessen, auf die Wölfe zu achten.«

    Sie zuckte die Achseln.
    Natürlich hatte sie es vergessen, leichten Herzens, wie man eben die Dinge vergisst, wenn man erwachsen wird. Doch heute, an diesem Tag, an dem sie vom fernen Tod ihres Vater erfuhr, da waren sie ihr wieder in den Sinn gekommen.
    Wölfe an der Spree?
    Warum nur beunruhigte sie diese Nachricht so sehr? Warum brachte sie die Wölfe mit dem Tod ihres Vaters in Verbindung?
    Sie hatte Wölfe nie gemocht, aber welches Kind tat das schon?
    Wölfe sehen nämlich wie Menschen aus.
    Warum musste sie ausgerechnet jetzt an Gretas Ausspruch denken.
    Wölfe sehen wie Menschen aus.
    In zu vielen Märchen, die ihre Eltern ihnen erzählt hatten, als sie noch klein gewesen waren, kamen große, böse Wölfe vor. Immer waren sie verschlagene und blutrünstige Bestien, die kleinen Kindern auflauerten und sie auffraßen. Und als ihre Schwester dann von ihnen ging, da träumte Vesper wochenlang nur noch von den Wölfen, die wie die Zeichnungen in den Märchenbüchern aussahen. Niemals hatte sie mit jemandem darüber gesprochen, nein, niemals.
    »Verdammt!«, murmelte sie wütend.
    Besorgt.
    Durcheinander.
    Dann ging sie weiter.

    Sie sah die Menschen zum Bahnhof eilen, sprang zwischen dem Verkehr auf die andere Straßenseite. Eine unsichtbare Anspannung schien über allem zu liegen, überall sprach man tuschelnd über die Kinder und die seltsamen Träume, die viele Menschen wohl gehabt hatten.
    Was, bitte schön, ging da nur vor? Die ganze Welt schien über Nacht aus der Bahn geraten zu sein.
    Vesper lief weiter.
    Ihr Atem war kaum mehr als Nebel im Regen.
    Die dampfenden Abgase der Autos wirbelten wie Tänzer durch die Luft. Die künstlich erhellte Stadt empfing den kommenden Tag, als sei er ein unwillkommener Gast. Ein Sturm lag in der Luft, man konnte es riechen. Regen nieselte im Licht der Laternen und Fahrzeugscheinwerfer.
    Sie rief Ida an. »Wie geht es Greta?«
    »Wie geht es dir ?«
    »Ich bin auf dem Weg in die Kunsthalle.«
    »Was willst du denn so früh in der Kunsthalle?«
    Sie sagte es ihr. »Wird bestimmt schon wieder ein seltsamer Tag werden«, mutmaßte sie.
    Ida schwieg. Dann sagte sie: »Greta geht es gut.«
    »Aber?« Vesper erkannte das Unbehagen in ihrer Stimme trotz der schlechten Verbindung.
    »Ich habe nicht gut geschlafen.« Im Hintergrund ratterte etwas lautstark und unruhig. Ida befand sich vermutlich irgendwo in der S-Bahn. »Hattest du jemals einen Albtraum, der so real war, dass du …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
    »Ja, denke schon.«

    »Ich …« Sie hielt inne. »Ist jetzt nicht

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