Grimm - Roman
Taschentücher schnäuzend und enttäuscht, weil er ihnen keine Rollen, Geld und anderes mehr geben würde.
»Tu es einfach«, forderte sie sich selbst auf.
Es würde nicht einfacher werden, je länger sie wartete. Außerdem brauchte Margo vielleicht auch jemanden, mit dem sie reden konnte. Der gestrige Besuch in der Schule schien Jahre zurückzuliegen. So viel war passiert, so viel hatte sich mit einem Schlag geändert.
Langsam streckte Vesper die Hand aus.
Ihr Finger berührte den glänzend vergoldeten Knopf, er war kalt, sie drückte ihn und hörte das Läuten von drinnen.
Sie wartete.
Die Tür öffnete sich schließlich nach einigen Augenblicken mit einem leisen Klicken.
Vesper erwartete ihre Mutter dort stehen zu sehen, doch da war niemand. Jemand hatte die Tür automatisch geöffnet und bot ihr Einlass, das war alles.
Vesper lauschte.
Kein Geräusch war zu hören, nichts, nur Stille. Eine Ruhe, die nicht gut war.
Sie hatte keine Ahnung, was das sollte.
»Margo?«
Vorsichtig lugte Vesper durch den Türspalt ins Innere.
Dann trat sie vor und öffnete die Tür.
»Hallo?« Fast war es, als höre sie die Stimme des kleinen Mädchens, das sie einmal gewesen war.
Nichts, nur Schweigen.
Vesper tat einen weiteren Schritt, sah sich um.
Die Diele ganz aus Marmor war kalt und steril. Eine hölzerne Skulptur, die eine grazile Meerjungfrau auf einem kleinen Felsen darstellte, erhob sich in der Mitte der Diele. Einige chinesische Steinbrunnen plätscherten friedvoll vor sich hin. Modernster Feng-Shui -Blödsinn. Der Boden war bedeckt von einem runden Teppich, dessen kaltes Blau, zur Skulptur passend, Wellenmuster aufwies.
Vorsichtig ging sie ins Haus hinein.
Alles war ruhig, noch immer.
Auf dem Treppenabsatz saß ein Buddha aus dunklem Holz, fast so groß wie ein Stuhl.
»Du und dein Eso-Scheiß«, hörte sich Vesper flüstern und dachte an all die Gurus, deren Workshops ihre Mutter besucht hatte.
Sie lauschte.
Immer noch war alles ruhig.
Nichts deutete darauf hin, dass sich außer ihr selbst jemand in diesen Mauern aufhielt. Nicht einmal die Beleuchtung war eingeschaltet. Das Haus war eine Welt aus Schatten und wabernder Stille, die im Schweigen Dinge wisperte, die längst Staub angesetzt hatten.
Verschüttete Erinnerungen kamen zurück. Erinnerungen an Berlin und an Amalia, ihre ältere Schwester. An die Geheimnisse, die jede Familie in ihrer Mitte begräbt und die in Momenten wie diesem offenbar zu werden drohen. Dunkle tiefe Gräber aus Vergangenheit und Falschheit. Kranke Geister aus der eigenen Vergangenheit. Laute,
Gerüche, der Geschmack einer Kindheit und die leise Berührung von toten Teenagerträumen.
Draußen regnete es jetzt heftiger. Sie hörte das Plätschern auf den Steinstufen hinter sich.
Sie schloss die Tür.
Klick.
Es war so unheimlich, wieder hier zu sein. Sie ließ den Blick neugierig und vorsichtig zugleich umherschweifen und fragte sich erneut, warum niemand da war, um sie zu begrüßen.
»Hallo?«, rief sie wieder und wieder in die Stille hinein, während sie langsam weiterging.
Nichts.
Keine Antwort.
An den hohen Wänden hingen teure Wandteppiche, manche so alt wie die Märchen, die ihre Eltern so gemocht hatten. Das mächtige Treppengeländer aus Stein würde jedes Kind dazu einladen, darauf hinabzurutschen, doch Dinge wie diese waren von vornherein verboten gewesen in diesem Haus - wie in dem davor in Berlin. Alles, was nicht mit Musik zu tun gehabt hatte, durfte nur leise und verhuscht daherkommen, damit kein Geräusch die große Pianistin störte.
Wie hatte sie das nur ausgehalten?
Vesper wagte sich tiefer ins Haus hinein.
Alles hier wirkte perfekt, nichts war dem Zufall überlassen. Jede Kommode, jede Pflanze und jeder noch so kleine Gegenstand hatte seinen Platz - und Vesper wusste, dass es ihre Mutter über alle Maßen erzürnen würde,
stünde auch nur ein einziger dieser Gegenstände irgendwie anders. Sie würde es bemerken, wenn er nur einen Millimeter verrückt worden wäre.
Feng Shui.
Vesper hielt inne.
Fucking Feng Shui.
Sie war unschlüssig, was zu tun war. »Margo?«
Beiläufig nahm sie einen Kerzenständer von der Kommode und verschob ihn um einige Zentimeter. Das Lächeln, das sie sich nicht verkneifen konnte, tat gut.
Trotzdem.
Etwas stimmte hier nicht.
Die Lichter waren alle ausgeschaltet. Nichts hier wirkte so, als sei jemand zu Hause.
Sie ging auf den Spiegel zu, der die Diele beherrschte.
Da war nur das Klacken ihrer eigenen Stiefel
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