Grimm - Roman
Gesicht bedecken und genoss die Kälte auf ihrer Haut.
Zu viele Dinge kamen Vesper wieder in den Sinn. Märchen, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Die seltenen Momente, in denen sie gemeinsam mit Margo Kuchen gebacken hatte. Wild durcheinandergeworfene Schnappschüsse, die bunt und schön waren und voller Musik, die so beschwingt und lustig war wie seitdem nie wieder.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster des Hauses, vor dem sie stand. Sah so jemand aus, der erwachsen war?
Sah so eine mutige Prinzessin aus?
Sie dachte an Amalia und das, was geschehen war. An den Grund für all das, jenen Grund, der bis heute fehlte.
»Komm schon«, sagte sie leise zu sich selbst, »bring es hinter dich.« Keiner ihrer Schritte wollte sie dorthin tragen, wo sie jetzt hingehen musste, aber sie taten es - und als Vesper vor dem Haus ihrer Mutter am Theresienstieg anhielt, da kam ihr der Gedanke, einfach umzukehren.
»Feigling«, zischte sie.
Sie strich sich das Haar aus der Stirn.
Nein, so einfach war das nicht. Sie wusste, dass sie sich der Trauer stellen musste. Und sie wusste, dass sie Angst davor hatte, ihre Mutter verzweifeln und weinen zu sehen.
Aber es gab kein Zurück. Manche Dinge mussten getan werden.
Und da war es - das riesige Haus mit den hohen Fenstern und den mächtigen Säulen, die den Eingang zierten. Einstmals hatte es wohlhabenden Kaufleuten gehört, doch dann, vor bereits zwei Jahren, als die Ehe ihrer Eltern so richtig zu bröckeln begann, hatte Margo Gold es erstanden, weil sie es für standesgemäß hielt, in einer Residenz wie dieser zu leben, wenn sie in Hamburg weilte.
»Ein ganzer Palast für dich allein«, hatte Vesper gespottet. Kaum anders als das Haus in Berlin.
»Für uns«, war die Antwort gewesen, »für uns, Kleines.«
Sie schluckte.
Ganze vier Tage hatte Vesper in diesem Haus gelebt - es war nur eine Lösung für den Übergang gewesen, so lange, bis ihre eigene neue Wohnung bezugsfertig war.
Die langen Korridore, die hohen Räume, die dumpfen Geräusche, die das Gebäude des Nachts machte, hier ein Knarren der Dielen, dort ein Schaben der Türen. Noch heute überkam sie ein Schaudern, wenn sie daran zurückdachte. Das Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben, an der Efeu wucherte. Laternen säumten den Weg zum Haus. Die parkähnlichen Anlagen, die das Haus umgaben, waren steril und symmetrisch und perfekt wie alles, was ihrer Mutter in die Finger geriet. Jeder Strauch und jeder Baum war zugeschnitten, jedem Ding war eine Form auferlegt worden, die es, komme, was wolle, beibehalten musste.
Vespers Schritte knirschten auf dem feinen Kiesweg, der zum Haus führte und dabei einen sanften Bogen beschrieb.
Sie sah den eleganten Wagen ihrer Mutter neben dem Haus in der Einfahrt stehen. Einen Jaguar XJ , pechschwarz und teuer. Margo Gold wechselte von einer luxuriösen Marke zur nächsten im gleichen Rhythmus, wie ihre Liebhaber kamen und gingen.
Ein eiskalter Wind ließ die Äste der Bäume am schrägen Dach des Hauses schaben.
Wie oft war sie in den letzten beiden Jahren heimlich in der Dunkelheit über das Grundstück in Berlin gelaufen, weil sie zu spät aus der Diskothek oder einem der
Clubs nach Hause gekommen war? Dafür hatte Margo ihr oft zugehört, wenn niemand sonst das getan hatte. Immerhin hatte sie den ersten Liebeskummer ihrer Tochter gelindert und ihr mit Ratschlägen zur Seite gestanden.
Und Maxime?
Während der ersten Tage in Hamburg hatte sie ihren Vater oft angerufen. Sie wollte seine Stimme hören, mit ihm reden, doch nie hatte er sich wirklich die Zeit für sie genommen. Immerzu war er von einem wichtigen Termin zum nächsten gehetzt. Immerzu war er in Begleitung einer neuen gesichtslosen Unbekannten gewesen. Viel zu viele Frauennamen waren gefallen.
Vesper schnaubte.
Nein, geredet hatten sie wenig miteinander. Wenn doch, dann war Vesper es gewesen, die es getan hatte. Denn eigentlich war Amalia sein Liebling gewesen, sein Augenstern, seine Prinzessin.
Vesper stöhnte innerlich auf.
Sie war an der Haustür angekommen.
Kurz zögerte sie, die Klingel zu drücken.
Noch könnte sie umkehren.
Komm bald.
Sie würde einfach wieder nach Hause gehen und ignorieren, dass ihr Vater gestorben war. Es wäre so einfach, das zu tun. Sie dachte an die Beerdigung, die in Berlin stattfinden würde. Sie stellte sich weinende Frauen am Grab ihres Vaters vor, allesamt blutjunge Schauspielerinnen und hübsche Regieassistentinnen, alle theatralisch
trauernd, in
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