Grimm - Roman
mehr. »Hat Maxime dir nicht noch einen Brief geschickt, zum Abschied?«
Vesper war wie erstarrt. »Nein«, stammelte sie. Wovon redete sie nur?
Erneut fiel ihr Blick auf den Flügel.
Warum trägt sie die Sonnenbrille?
Sie trat einen Schritt zur Seite.
»Warum hast du diese Melodie gespielt?« Sie drückte eine Taste nach unten, weil sie wusste, dass ihre Mutter es nicht ausstehen konnte, wenn jemand ihr Instrument berührte.
Klack.
Vesper hielt inne, starrte die Taste an, dann ihre Mutter.
Klack.
Klack.
Kein Ton.
»Warum …?« Vesper stockte.
Ihre Mutter war ordentlich, außerordentlich pedantisch. Und der Flügel sah nicht so aus, als gehöre er Margo Gold. Die Notenblätter standen verkehrt herum im Ständer. Da war eine Pfütze unter der Vase. Die aufgeweichte Zeitung mit den Schlagzeilen des Tages.
»Du hast eben nicht meine Begabung«, sagte Margo Gold, die den Blick ihrer Tochter bemerkt hatte. »Du hast
überhaupt keine Begabung. Deswegen entlockst du dem Flügel auch keinen Ton.«
Vesper starrte nur das Instrument an. Ihr Herz schlug in rasendem Tempo.
Sie drückte die Taste erneut.
Klack.
Klack.
Dann die anderen Tasten.
Klack, klack, klack.
Die meisten Tasten ließen sich nur schwer herunterdrücken. Weil etwas sie blockierte.
»Nun?«, säuselte Margo Gold. »Neugierig?«
Benommen hob Vesper den Deckel an.
Das Geräusch, das ihrer Kehle entrann, war wie Sterben, nur anders.
Sie schrie auf, noch bevor sie verstand, was sie sah.
»Mama, oh Gott«, stammelte sie.
Ihr schwindelte, sie konnte kaum atmen.
Denn das, was im Innern des Flügels war, überforderte ihren Verstand, und ein Schock, so wild und mächtig wie nichts, was sie jemals zuvor in ihrem Leben empfunden hatte, bohrte sich ihr ins Herz und schleuderte es einem Abgrund entgegen, mit dem sie niemals, nicht in ihrem schlimmsten Albtraum, je gerechnet hätte. Das Bild, das sich ihr dort bot, war mit nichts zu vergleichen, was sie jemals gesehen hatte. Die Wirklichkeit, die sie gekannt hatte, zersplitterte und ließ alles in ihr erbeben.
»Du neugieriges, neugieriges Kind«, hörte sie eine Stimme sagen.
Vesper hustete, schnappte nach Luft.
Konnte den Blick nicht abwenden.
Das Innere des Flügels war voller Pflanzen, die ihre Ranken um den Körper einer Frau wanden. Da waren gekrümmte Dornen, die sich in die Haut bohrten. Es pulsierte, was immer es war.
»Mama«, keuchte sie wieder und wieder, ganz weinerlich und schwach. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Mutter nicht mehr so genannt hatte, aber jetzt tat sie es. Sie schlug die Hand vor den Mund, um einen weiteren Schrei zu unterdrücken.
Nein, das konnte nicht wirklich sein.
Hüte dich …
Margo Gold war tot.
Einfach so.
Sie lag mit verrenkten Gliedmaßen in ihrem Flügel und atmete nicht mehr. Die Ranken der Pflanze steckten ihr in Mund, Nase und Augenhöhlen. Dunkles Blut rann ihr über das leblose Gesicht, und die Enden der Pflanze schienen dieses Blut so gierig zu trinken, als fürchteten sie, der Strom könne versiegen. Rosarote Blüten öffneten sich an den grünen Ranken und wisperten zischend wie winzige Schlangen, als sie Vesper bemerkten, und in ihnen schrien kleine Gesichter, die alle wie das Gesicht ihrer Mutter aussahen.
Vesper ließ den Deckel los.
Mit einem lauten Knall schlug er zu.
Sie wich zurück.
Zitterte am ganzen Leib.
Was ging hier nur vor?
Das Wesen, das wie ihre Mutter aussah, stand plötzlich vor ihr. Es verzog das Gesicht zur Grimasse eines Lächelns.
»Was ist hier los?«, schrie Vesper. Die Panik explodierte in ihr. Sie schnappte nach Luft.
Alles drehte sich ihr vor Augen.
Nein, nein, nein!
Sie durfte das Bewusstsein nicht verlieren. Nicht hier, nicht jetzt. Das wäre ihr Ende, sie wusste es.
Zornig und verwirrt riss sie ihrem Gegenüber die Sonnenbrille vom Gesicht.
Und schrie erneut auf.
Taumelte weiter nach hinten zurück.
Denn die Kreatur, die wie ihre Mutter aussah, hatte überhaupt keine Augen mehr. Da, wo die Augen hätten sein sollen, waren Stücke von einem zerrissenen weißen Laken auf die Haut aufgenäht. Und auf diese Lumpenfetzen waren mit schwarzer Farbe große starre Augen aufgemalt worden, kindlich verzerrt und weit aufgerissen.
»Sieh mich nur an«, sagte das Ding, das wie ihre Mutter aussah. »Sieh mich an und hab keine Angst. Du bist zu mir gekommen, Vesper. Nur darauf habe ich so lange gewartet.« Es gluckste in ihr, was einem Lachen wohl am nächsten kam. »Dafür bin ich geschaffen worden.«
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