Grimm - Roman
sich ruckartig um, weil sie das Gefühl beschlich, als folge ihr jemand. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, ob es nicht der seltsame Junge aus der Kunsthalle sein konnte, der ihr nachstellte. Aber dann sah sie seine Augen vor sich - so braun, dass man in ihnen versinken konnte, wenn man nicht aufpasste -, und sie schalt sich eine Närrin, so etwas auch nur anzunehmen. Er hatte skurril gewirkt, merkwürdig, aber nicht böse. Nein, das auf gar keinen Fall.
Trotzdem bekam sie ihn nicht aus ihrem Kopf. Er tauchte auf, verschwand wieder.
»Seltsames Leben«, sagte sie laut vor sich hin.
Und nur langsam schlenderte sie weiter.
Leichter Nebel hatte sich über diesen Teil der großen Hafenstadt gelegt, und im traumwandlerischen, von leichtem Nieselregen durchtränkten Herbstnebel war ihr erneut manchmal, als folgten ihr Schritte. Doch jedes Mal, wenn sie anhielt, erstarb das Geräusch, wie von der weißen Wand verschluckt. Konnte es sein, dass sie nicht allein hier draußen war?
»Du spinnst doch«, schimpfte sie sich selbst eine Närrin.
Wieder musste sie an die bösen Wölfe denken, an sie und den Mann mit dem unscharfen Tier auf der Schulter - und sie wunderte sich, wie sehr sie die alten Ängste, die sie als Kind so fest in ihren Fängen gehalten hatten, noch immer heimsuchen konnten.
Wölfe an der Spree?
Noch immer beunruhigte sie etwas an dieser Nachricht, doch sie konnte nicht sagen, was genau es war. Andererseits lenkte sie die Furcht vor den bösen Wölfen von dem ab, was ihr wirklich Kummer bereitete und sie mit einer dumpf nagenden Angst quälte.
Mehrmals blickte sie sich um, doch fand sie keinen einzigen wirklichen Hinweis darauf, dass ihr jemand folgte.
Sie ging am Haus für Kunst und Handwerk vorüber und ließ die großen klassizistischen Häuser der Schmilinskystraße hinter sich.
An einer Ampel wurde sie einer Mutter mit ihrer kleinen Tochter gewahr. Das Mädchen mochte sieben oder acht Jahre alt sein, etwas älter als Greta. Die Kleine trug eine Mütze und einen großen bunten Schulranzen. Die
Mutter, adrett gekleidet in Kostüm und Mantel und teuer geschminkt, zerrte das Kind hinter sich her, und ihre Ungeduld zog ihr die Mundwinkel nach unten.
Vesper und das Mädchen in der roten Jacke sahen einander an, als sie an der Ampel standen, und Vesper lächelte der Kleinen zögerlich, aber aufmunternd zu. Es war ein trauriges und offenes Lächeln, voller Verständnis für die Dinge, die das Mädchen wohl erleben musste, und das Mädchen in der roten Jacke, dessen Namen Vesper wohl nie erfahren würde, lächelte ebenso wissend, zögerlich und ebenso traurig zurück.
Vesper fragte sich, mit welchen Mitteln die überaus streng aussehende Frau ihre Tochter wohl bestrafen würde, wenn sie eine Strafe für angemessen hielt. Sie fragte sich, ob die Frau viel Zeit mit ihrer Tochter verbrachte. Sie fragte sich, ob auch die Kleine gestern eingeschlafen war.
Mädchen, weich vom Wege nicht.
So viele Fragen, so wenige Antworten.
Die Kleine indes starrte Vesper mit großen Augen und fern jeglichen Misstrauens an, und dann bemerkte ihre Mutter die junge Frau in der Lederjacke mit den überaus stark umschminkten Augen. Boshaft funkelte sie Vesper an, und ihr Blick ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass sie nichts von ihr hielt. Sie zerrte weiter an ihrer Tochter, die keine Wahl hatte, als ihrer Mutter über die Straße zu folgen.
Vesper seufzte.
Sie dachte an die Märchen ihrer Kindheit und hoffte, dass das Mädchen eines Tages ein Leben finden würde,
in dem es sich an der Sonne wärmen konnte. In den Märchen gab es Prinzen, die viele Abenteuer bestanden, um einen zu retten. Doch im richtigen Leben waren die meisten Männer nur sich selbst am nächsten. Die Prinzessinnen mussten ihr Leben selbst in die Hand nehmen, wenn sie dem Schicksal entrinnen wollten.
Sie mussten allein den Ausweg finden.
Du wirst einmal eine von den mutigen Prinzessinnen sein, hatte Amalia ihr immer gesagt.
Glaubst du?, hatte sie ihre Schwester dann gefragt.
Amalia hatte sie auf die Stirn geküsst und geantwortet: Ich weiß es.
Meine Güte, das war lange her. So verdammt lange und doch nicht lange genug. Das würde es nie sein, dessen war sie sich sicher.
Vesper schaute den beiden - Mutter und Tochter - hinterher und ging dann weiter ihres Weges.
Nach weiteren fünf Minuten zu Fuß war sie da.
Die Gerippe der kahlen Bäume, die bis über die Straße reichten, wiegten sich im Wind. Sie ließ den Nieselregen ihr
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