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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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weiter.
    Die kalte Luft schlug ihr ins Gesicht und brachte ihr das Bewusstsein und klarere Gedanken zurück.
    Hinter sich hörte sie Fensterglas bersten.
    Sie hob den Blick und sah, wie Flammen wild aus den Fenstern züngelten.
    Irgendwo hinten, im Schatten der Bäume, heulte ein Wolf.

    DER Wolf.
    »Oh, Gott«, entfuhr es ihr, »das gibt’s doch nicht.« Sie konnte die Gestalt des Tieres, das sich ihr näherte, erkennen. Sie war wieder fünf Jahre alt und in einen schlimmen Traum gefallen.
    Der böse, böse Wolf.
    Sie rannte los.
    Hinter sich hörte sie erneut Fensterglas bersten. Das Feuer breitete sich also schnell aus.
    Du bist eine von ihnen, hatte der Wolf gesagt. Die Worte tauchten aus ihrer Panik auf wie Luftbläschen.
    Was, zur Hölle, hat er damit gemeint?
    Der Schatten näherte sich, schnell und unbarmherzig. Der große Wolf rannte über den Rasen, und Vesper fühlte sich im allerschlimmsten Traum ihrer Kindheit gefangen: Sie rennt über eine Wiese, in deren Mitte ein knorriger Baum steht, das Gras ist hoch und weht im Wind, und dann sieht sie den Wolf, der schwarz und hungrig auf sie zukommt. Verdammt, sie wusste einfach, dass dies der Wolf aus ihren Träumen war. Er sah nicht aus wie ein echter Wolf, nein, irgendetwas war anders an ihm. Und als sie ihn jetzt im Licht des grauen Tages sah, da wusste sie, was es war.
    Er sah wie gezeichnet aus.
    Das Schwarz seines Fells war zu schwarz, um natürlich zu sein. Die Umrisse waren zu schemenhaft, um wirklich zu sein.
    Der Wolf, der ihr folgte, war der Wolf aus den Träumen des kleinen Mädchens, das sich allein in der Nacht gefürchtet hatte.

    Jetzt war er hier.
    Ihre Mutter ermordet, ihr Vater tot.
    Sie war allein, ganz allein.
    Verzweifelt suchte ihr Verstand nach Antworten, doch welche sollten das sein?
    Du bist jetzt ein Waisenkind.
    Skurrilerweise war dies der erste klare Gedanke, der sich manifestierte.
    Du bist ein Waisenkind.
    Sie stolperte, stürzte.
    Du bist jetzt frei.
    Sie keuchte. Erbebte in einem Anflug von Erleichterung, der ihr irgendwie unpassend erschien.
    Schnell war sie wieder auf den Beinen.
    Die Wolfsbestie kam näher.
    Sie schaute nach vorn, zum Tor. Dahinter lag der Theresienstieg mit seinen Passanten und dem Verkehr. Sie hörte die Autos und die Geräusche der Stadt, ja, dort wäre sie sicher.
    Oder?
    Vesper rannte den Kiesweg hinab, so schnell es ging. Hinter sich hörte sie die Bestie keuchen. Sie vermied es, einen Blick zurückzuwerfen; nein, das wäre ein Fehler gewesen. Sie wusste, was ihr auf den Fersen war. Der wilden Bestie in die glühenden Augen zu blicken würde an der Situation nichts ändern.
    Weiter, weiter, weiter!
    Nur diese Worte schrien in ihr.
    Du schaffst es.

    Musst es schaffen.
    Vesper erreichte das Tor und taumelte auf die Straße.
    Blickte panisch umher.
    Es war einmal …
    Einige Passanten starrten sie überrascht an. Doch keiner eilte ihr zu Hilfe, weil sie nicht wie jemand aussah, dem man freiwillig seine Hilfe anbot. Vesper spürte, wie die Passanten sie anfunkelten, wohlbetuchte Leute aus der Gegend und ablehnend allem Fremden, Seltsamen und weniger Wohlbetuchten gegenüber. Keiner von denen hatte seine Eltern beide an einem einzigen Tag verloren, keiner von denen war auf der Flucht vor einem bösen Wolf, der sprechen konnte.
    Vesper rieb sich die Augen, wischte sich den Schweiß von der kalten Stirn.
    Ja, ihr wurde bewusst, dass niemand ihr Schicksal teilte, und das machte sie wütend, selbst jetzt, in dieser ausweglosen und gefährlichen Situation. Vesper Gold war einfach nur verzweifelt, und all der Druck, der auf ihr lastete, entlud sich in abfälligem Hass gegenüber diesen Menschen, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
    »Und was jetzt?«, flüsterte sie außer Atem.
    Dann blickte sie zurück über die Schulter, und was sie sah, gefiel ihr noch weniger als der böse Wolf.
    »Na, klasse«, entfuhr es ihr.
    Der Wolf war verschwunden. An seiner statt stand nun ein großer Mann auf dem Rasen. Er war unscharf und so schwarz wie eine Kohlezeichnung in einem Kinderbuch. Und er kam auf sie zu.

    Und Vespers Verstand? Der akzeptierte vorbehaltlos, was sie sah.
    Sie hatte bisher nie daran geglaubt, dass es Kreaturen wie die aus den Horrorfilmen und Märchen gab, aber was sie gesehen hatte, stand ihr noch klar vor Augen - und das, was man sah, konnte man doch glauben, oder?! War das denn nicht auch eine der Gewissheiten, die die alten Märchen einem Kind mit auf den Weg gaben?
    In Wirklichkeit

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