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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Das Ding stellte die große Flasche Cognac seelenruhig auf dem Flügel ab.
    Vesper wich nach hinten zurück.
    »Wenn du willst, dann bin ich deine Mutter.«
    »Was …« Die Worte zerbrachen ihr im Hals.

    »Lass mich deine Mutter sein«, säuselte das Ding. »Nur ganz kurz, bitte, nur ganz kurz.«
    Hinter der Kreatur bewegte sich etwas in dem schattenhaften Dämmerlicht des Salons.
    Ein großer Wolf stand dort. Ruhig. Abwartend. Mächtig.
    Vesper schluckte.
    Sie spürte, wie ihre Beine unkontrolliert zu zittern begannen.
    Nein, das konnte nicht sein. Ihr Leben stellte sich auf den Kopf, und nichts von alledem ergab einen Sinn.
    »Was bist du?«, keuchte Vesper. Sie wusste nicht einmal, wen von beiden sie meinte.
    Meine Güte, ihre Mutter war tot.
    Margo Golds Leichnam lag in dem Flügel.
    »Was …?« Erneut versagte ihr die Stimme.
    Das Ding, das wie ihre Mutter aussah, kicherte, und winzige Brocken dunkler Erde fielen ihm aus dem Mund. »Knusper, knusper, knäuschen«, zischte es, eine alte Melodie summend, »wer knuspert an meinem Häuschen.« Es kicherte, und es klang, als müsse sich das Margo-Ding gleich übergeben.
    Der Wolf indes stand nur knurrend da und fixierte Vesper. Er war groß, und die Muskeln unter dem Fell zeichneten sich deutlich ab, sobald er sich bewegte. Speichel troff ihm von den Lefzen, und er schien zu lächeln. »Du bist vom Weg abgekommen, Kleines«, knurrte er tief und spottend. »Weißt du denn nicht, dass junge Mädchen das nicht tun sollen?«
    Vesper wusste nicht mehr, wie ihr geschah.

    »Du redest ja«, stammelte sie.
    Der Wolf neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Ist nicht schwierig«, fauchte er.
    Vesper dachte an die Märchen ihrer Kindheit. Und instinktiv spürte sie, dass ihre Mutter wirklich tot war. Sie hatte den Leichnam natürlich gesehen und sofort gewusst, dass ihre Mutter tot war. Aber jetzt fühlte sie es. Die dumpfe Trauer, die ihr Herz und Verstand flutete, ließ sie hilflos und ratlos in diesem widersinnigen bedrohlichen Augenblick zurück.
    Sie schaute ihr Gegenüber an.
    Was immer diese Kreatur war, sie war eine Kopie ihrer Mutter. Ein Köder, eine Falle, was auch immer. Bruchstückhaft setzte ihr entsetzter Verstand die Puzzlestücke zusammen. Dafür bin ich geschaffen worden. Doch das Bild, das sie sah, ergab keinen Sinn. Lass mich deine Mutter sein. Die Kreatur stand da und beobachtete sie.
    Und dann der Wolf.
    Vesper hätte am liebsten panisch losgelacht.
    Woher kam dieser Wolf, der genauso aussah wie der Wolf ihrer Kindheit? Es gab keine Wölfe in Hamburg. Mit Sicherheit gab es überhaupt keine Wölfe, die wie der Wolf aus ihrer Kindheit aussahen. Das große schwarze Biest aus ihren Träumen. Der Räuber, den sie in einem illustrierten Märchenbuch ihres Vaters zum ersten Mal gesehen hatte, als sie keine sechs Jahre alt gewesen war.
    »Was wollt ihr von mir?« Die Frage galt beiden, dem Margo-Ding und dem Wolf.
    Das Margo-Ding schwieg.

    »Ich bin der böse Wolf«, sagte der böse Wolf, und seine Stimme war heiß und warm wie der Tod, den er in die Welt brachte.
    »Was willst du von mir?«
    Die Raubtieraugen suchten ihren Blick. »Ich werde dich fressen.«
    Sie schluckte. Alles, was ihr zu sagen einfiel, war: »Blödsinn!«
    Der böse Wolf trat näher. »Du hast so schöne große Augen«, knurrte er. »Die werden mir am besten schmecken.« Die spitzen Krallen machten leise schabende Geräusche auf dem Parkettboden. »Und dein frischer Körper; nichts gleicht dem Geschmack von zartem Fleisch, wenn es jung ist.«
    Vespers Knie zitterten.
    Das konnte doch nur ein Albtraum sein!
    »Warum willst du mich fressen?« Stellte sie dem bösen Wolf wirklich diese Frage? Fast hätte sie lachen müssen, so absurd war die Situation.
    Der Wolf hielt inne und sah überrascht aus. Dann sagte er: »Du bist eine von ihnen.«
    Vesper hatte keine Ahnung, was er meinte. »Eine von ihnen?« Was hatte das zu bedeuten?
    »Ich werde dir keine Erklärung geben«, antwortete der Wolf. »Ich werde dich einfach nur fressen.«
    »Kein Brief, kein nichts«, teilte das Margo-Ding dem großen Tier mit.
    Das Grollen in der Kehle des Wolfes war die einzige Antwort, die durch den Raum donnerte.

    »Er wird dich in Stücke reißen«, sagte das Margo-Ding, »und dann wird er die Stücke verschlingen. Eines nach dem anderen. Und nichts, mein Kind, rein gar nichts, wird mehr von dir übrig bleiben.« Traurig fügte die Kreatur hinzu: »Und dann bist du nie meine Tochter, und ich werde nie deine

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