Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
hatte sie keine Ahnung, was diese Kreatur war, ob Wolf oder Mensch, Werwolf oder Gestalt aus dem Märchenbuch ihrer Kindheit. Das Ding war hinter ihr her, und das war alles, was jetzt zählte. Es sah aus wie eine Radierung, Konturen, Schwärze, kaum mehr.
    »Egal«, keuchte sie.
    Sie musste von hier fort. Sie wollte sich nicht ausmalen, was ihr widerfahren würde, brächte dieses Ding sie in seine Gewalt.
    Also rannte sie.
    Sie lief den Theresienstieg entlang, dorthin, wo Menschen waren. Inständig hoffte sie, dass sie die Gesellschaft vieler Menschen schützen würde, dass das Ding vielleicht von ihr ablassen würde und sie ihm entkommen würde. Sie rannte und rannte, am Schwanenwik entlang, durch die engen Gassen und verwinkelten Straßen von St. Georg, vorbei an den Gay-Cafés und Clubs, Restaurants und kleinen Geschäften. Traurig abgewrackte Jugendstil-Altbauten, schmierige Sexshops und Ramschsupermärkte flogen an ihr vorbei wie Traumfetzen, und niemand auf der Straße schenkte ihr Beachtung.

    Hin und wieder warf sie einen Blick zurück und wurde der Silhouette des dunklen Mannes gewahr, der ihr folgte. Sie wusste nicht, ob der Mann und der böse Wolf die gleiche Kreatur waren, aber das war auch nicht wichtig. Ohne Zweifel gehörten die beiden zusammen, irgendwie.
    Du bist eine von ihnen.
    Vesper fühlte sich elend.
    Gejagt.
    Verloren.
    Nie war ihr die Stadt grauer und kälter vorgekommen als heute. Die Luft roch nach Schnee, und das Herbstlaub wehte ihr um die Füße, als wolle es alle Spuren verwischen.
    Vesper Gold rannte.
    Den ganzen langen Weg bis zur großen Kuppel des Bahnhofs trugen sie ihre Beine, vorbei an der Kunsthalle, hinein ins Getümmel der weiten Wandelhalle mit all ihren Geschäften und den Massen umhereilender Menschen, die keine Blicke füreinander hatten und nur ihren kleinen persönlichen Terminen nachhetzten.
    Vor dem Blumenladen neben der Buchhandlung blieb Vesper stehen, doch nur kurz. Die Gerüche der Schnittblumen trafen saftig und dicht ihre Nase und erinnerten sie an die hungrigen Ranken, die den Leichnam ihrer Mutter in dem Flügel umschlungen gehalten hatten.
    Alles dort würde jetzt ein Opfer der Flammen werden.
    Das Haus am Theresienstieg.
    Margo Gold.

    Erneut dachte sie den Gedanken, der ihr das Herz zerriss und zugleich die Freiheit bedeutete: Sie war jetzt allein in der Welt. Ihre Familie gab es nicht mehr. Sie war nur Vesper Gold, eine gewöhnliche Schülerin auf der Flucht.
    Du bist eine von ihnen.
    Vesper hob den Blick, schloss kurz die Augen, öffnete sie sofort wieder.
    Die Glas- und Stahlkonstruktionen des Hauptbahnhofs spannten sich über den Menschen, die alle hektisch durcheinanderliefen. Geschäftsleute mit Laptops, die wichtigtuerisch in ihre Telefone nuschelten; Reisende mit vielen Koffern, die rücksichtslos ihre Wagen durch den Tumult steuerten; Kinder, die fassungslos an den Händen ihrer Eltern durch die Halle gezogen wurden, die faszinierten Blicke offen für jedes noch so alltägliche Wunderwerk, das jemand jenseits der zwanzig gar nicht mehr registrierte.
    Vesper schaute zum Eingang der Halle.
    Da war sie - die Kreatur!
    Der Wolf.
    Der Mann.
    Der Schemen.
    Was auch immer er war.
    Er war noch immer da.
    Drüben am Eingang zur Wandelhalle stand er und streckte das Gesicht in den Wind. Er sah aus wie jemand, der lange und tief Witterung aufnimmt und nicht lockerlassen wird. Sein schattenhaft gesichtsloses Antlitz wandte sich ihr zu, er hatte sie entdeckt.

    Panisch rannte Vesper weiter.
    Sie sah zwei Polizisten in ihren blauen Uniformen und mit den demonstrativ zur Schau getragenen Waffen und Walkie-Talkies. Sofort wusste sie, dass sie von den beiden keine Hilfe zu erwarten hatte. Was hätte sie ihnen denn schon sagen können? Dass ihre Mutter tot in einem Flügel lag, begraben unter den Ranken einer seltsamen Pflanze; in einem Haus am Theresienstieg, das in eben diesem Augenblick bis auf die Grundmauern abbrannte?
    Nein, sie konnte dieses Wissen mit niemandem teilen. Nicht hier, nicht jetzt.
    Wo also sollte sie hin?
    »Denk nach, denk nach«, flüsterte sie. Doch ohne weiter nachzudenken, lief sie zu den Zügen, die nächste Rolltreppe hinab zu einem der Bahnsteige, weil ihr der Rückweg in die Stadt hinaus von dem bösen Wolf versperrt war. Der Gesichtslose, der einmal der böse Wolf gewesen war, folgte ihr dicht, sie spürte es.
    Also mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und lief weiter und weiter.
    Der Gesichtslose kam ihr unverdrossen hinterher.
    Dann

Weitere Kostenlose Bücher