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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Opfer. Es gab auch Tiere, doch davon trauten sich selbst die Erwachsenen nicht zu erzählen, und deshalb fürchtete sich das Mädchen vor den Tieren ganz besonders.
    Die ganze Nacht über zerbrach sich Rosa den Kopf darüber, wie sie ihrem Schicksal entrinnen könnte. Sie erinnerte sich an das alte Märchen von den beiden Geschwisterkindern, die im Wald Kieselsteine und Brotkrumen ausgestreut hatten. Aber dieses Märchen war nicht gut ausgegangen. Außerdem hatte sie keine Kieselsteine, und die Brotkrumen würden sicherlich die hungrigen Bettler vom Boden auflesen und essen.
    In seiner Verzweiflung begann das Blumenmädchen bitterlich zu weinen, und dann, im Augenblick größter Verzweiflung, hatte es eine Idee.
    Es ging zu dem Blumenkorb und zog eine Handvoll Rosen hervor. Die legte es heimlich vor den Kamin, der noch warm war, sodass sie schnell trocknen würden. Am frühen Morgen stand es dann auf, bevor der grimmige Onkel und die böse Tante erwachten, und rupfte die Rosenblätter von den Stielen und zerrieb die Blütenblätter zu feinem Staub, den es unten im Korb versteckte.
    Ja, damit würde sie eine Spur legen, die sie wieder nach Hause führen würde.

    Eine Spur aus Rosenstaub (Vesper fragte sich schon damals, wie es dem Mädchen nur gelungen war, aus den wenigen Rosen, die sich zweifelsohne in dem Korb befunden hatten, so viel Rosenstaub zu gewinnen, dass sie damit eine lange Spur legen konnte - aber letzten Endes war es nicht wichtig gewesen, wie sie es gemacht hatte. Das war es in Märchen nie. Es war nur eine Geschichte, und in den Geschichten, das wusste Vesper schon damals ganz sicher, war einfach alles möglich).
    Als nun der Tag anbrach, führten der Onkel und die Tante das Mädchen in die große, große Stadt hinaus. Sie überquerten Plätze und Brücken, wagten sich durch dunkle Gassen und trafen auf breite Boulevards. Schließlich, als sie einen Teil der Stadt erreichten, der so weit vom Zuhause des Mädchens entfernt war, dass die Menschen sich dort sogar in einer anderen Sprache unterhielten, da ließen sie Rosa mit dem Versprechen zurück, bald wieder da zu sein, noch bevor die Nacht hereinbrach, denn dann kamen die Banden, so sagte man, aus ihren Löchern und fielen über all diejenigen her, die sich nicht nach Hause begeben hatten - ganz zu schweigen von den Tieren, über die zu reden sich niemand traute. Rosa nickte und sah ihnen hinterher, bis sie verschwunden waren.
    Sogleich machte sie sich auf den Weg.
    Denn unterwegs hatte das Blumenmädchen an jeder Ecke seinen Rosenstaub verstreut und so eine Spur gelegt, die es zurück nach Hause führen sollte.
    Sie wusste, dass sie dort kein Glück erwartete, aber immerhin auch nicht der Tod.
    Also ging sie los.

    Doch mit der Zeit bemerkte sie, dass der Wind den Rosenstaub an vielen Stellen verweht hatte. Die Spur führte nun in eine ganz andere Richtung, aber das bemerkte sie nicht, weil sie ja in der Fremde war (Vesper fragte sich, weshalb der Wind den Rosenstaub zufällig zu einer neuen Spur zusammengeweht hatte, anstatt ihn vollständig zu ver wehen - doch auch das war eigentlich gar nicht so wichtig, denn wichtig war nur, dass Rosa der Spur folgte. Wichtig war, dass sie Zuversicht und Vertrauen hatte. Das war es, worauf es in der Geschichte ankam).
    Und so ging Rosa weiter.
    Ihre Beine schmerzten, und schließlich führte sie die Spur zu einem kleinen Haus. Das Haus stand inmitten riesiger Häuser, die bis hinauf in den Himmel zu reichen schienen, und in dem Haus wohnte eine Witwe, die sich schon immer ein Mädchen gewünscht hatte.
    Rosa klopfte an die Tür, weil hinter ihr die Nacht hereinbrach, und als die alte Frau die Tür öffnete, da begann sie, obwohl sie Rosa nicht kannte, zu weinen, weil sie das Mädchen erblickte, nach dem sie sich so gesehnt hatte. Und Rosa, die endlich ein Zuhause gefunden hatte, weinte ebenfalls.
    Vesper hatte schon als Kind gewusst, wo die Moral dieses Märchens verborgen lag: Folge einfach der Spur aus Rosenstaub, egal, wohin sie führen mag. Eigentlich war es ganz einfach. Sei offen für das, was das Schicksal dir in die Hände gibt. Und, das war überhaupt das Allerwichtigste: Nimm dein Schicksal selbst in die Hand.
    Sie musste lächeln.
    Selbst heute, an diesem trostlosen Tag. Sie betrachtete den Schlüssel, der schwer war und geheimnisvoll. Und
erneut flüsterte sie: »Bist du meine Spur aus Rosenstaub?«
    Doch warum fragen? Vesper wusste, dass es so war.
    Ja, dies war ihre Spur aus Rosenstaub. Ihr musste

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