Grimm - Roman
sie folgen, wohin sie auch führen mochte.
Sie rief sich die alte Wohnung der Familie Gold in Berlin ins Gedächtnis. Die Wände im Treppenhaus und im Arbeitszimmer ihrer Eltern waren voller Gesichter gewesen: Musiker, Sänger, Schauspieler, Regisseure, große Stars und Namenlose, Schriftsteller und Drehbuchautoren, unscheinbare Komponisten. Die Welt ihrer Eltern war schon immer so gewesen, hell erleuchtet vom schönen Schein der unwirklichen Welt, die auf der Leinwand und den Brettern der Theaterbühnen geboren wurde.
Das Leben, das wusste Vesper jetzt schon lange, war wirklich nichts anderes als eine große, große Stadt.
Sie schaute aus dem Fenster hinaus.
Draußen schneite es jetzt dicke Flocken, als wolle die Welt zu einem Winterland werden.
Dann hörte sie Schritte.
Hüte Dich vor den Wölfen.
Sie spürte, wie die Panik in ihr erwachte. Eine Angst, die schwärzer war als die Nächte in den Märchen.
Und dem, was ihnen folgt.
Konnte es sein, dass sie sich geirrt hatte? Nein, nein, nein. Sie lauschte, ganz angestrengt.
Kein Zweifel, da waren Schritte, draußen im Treppenhaus. Jemand kam nach oben, näherte sich stetig. Auf den
Treppenabsätzen hielt er kurz inne, weil er vermutlich die Namensschilder an den Wohnungstüren las, doch schnell ging er weiter.
Hinauf, hinauf, hinauf.
Wer konnte das sein? Wie war derjenige ins Haus gelangt? Augenblicklich dachte Vesper an das Wolfswesen, und eine wachsende Panik bemächtigte sich ihrer. Wohin sollte sie nur fliehen, wenn die Kreatur sie hier ausfindig gemacht hatte? Ihr Herz pochte, und da war erneut die pulsierende Angst, die ein schwaches Beutetier in Gegenwart des gierigen Raubtieres verspürt, eine Furcht, die sie, so kreischend und urtümlich und lähmend, vor wenigen Stunden zum allerersten Mal in ihrem Leben verspürt hatte, als sie vom Haus am Theresienstieg durch die Stadt zum Bahnhof geflüchtet war.
Die Schritte näherten sich.
Hüte dich vor den Wölfen.
Wurden lauter.
Vor dem, was ihnen folgt.
Vesper nahm allen Mut zusammen, atmete tief durch.
Jemand klopfte an die Tür.
Langsam, furchtsam, spähte Vesper durch den Spion an der Tür.
Atmete erleichtert auf, erst einmal.
»Moment«, rief sie, drehte den Schlüssel um und öffnete.
Zwei Polizisten standen dort im Treppenhaus und nickten ihr zu. Die dunklen Uniformen der Hansestadt aber wirkten heute bedrohlich und einschüchternd auf sie. Die
beiden trugen Pistolen an den Gürteln und sahen ernst und eilig aus.
»Fräulein Gold?«, fragte der eine, und er klang zögerlich. »Vesper Gold?«
Vesper nickte. »Ja, das bin ich.« Tausend Lügen kamen ihr in diesem Augenblick in den Sinn. Tausend Lügen, die sie in den nächsten Momenten würde vorbringen müssen.
Die beiden Polizisten stellten sich ihr kurz und knapp vor. »Mein Name ist Lettinger.«
»Hoffmann«, sagte der andere.
Der eine der beiden, Lettinger, war noch jung, kaum älter als sie selbst. Sein um einige Jahre älterer Kollege, Hoffmann, hingegen wirkte wie jemand, der die verwinkelten Gassen und Straßen Hamburgs wie seine Westentasche kannte. Wie jemand, der niemals zu Späßen aufgelegt ist, wenn er sich im Dienst befindet, und der Hemden niemals ungebügelt und ohne Krawatte tragen würde.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Hoffmann. »Sie sehen aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst gesehen.«
Vesper schüttelte schnell den Kopf. »Mein Vater ist gestorben«, antwortete sie, »ich habe es gestern erst erfahren.«
Die beiden Polizisten nickten und sahen einander ernst und traurig an. »Ihre Mutter ist Margo Gold?«
Sie nickte.
Langsam.
Vesper konnte sich sehr wohl denken, weshalb die beiden hier waren. Das Haus am Theresienstieg war abgebrannt, und man hatte den Leichnam ihrer Mutter gefunden.
Fieberhaft überlegte sie, was sie den beiden sagen sollte, wenn sie ihr Fragen stellten. Fragen, die Vesper nicht beantworten wollte. Doch würde es vorerst wohl ausreichen, wenn sie die Unwissende mimte.
»Ihre Mutter ist heute Nachmittag verstorben«, begann Hoffmann, und das, was er sagte, ging wie in einem Rauschen unter. »Es hat einen Brand gegeben, und Ihre Mutter ist den Flammen zum Opfer gefallen.«
Vesper starrte die beiden an, öffnete in stillem Entsetzen den Mund, aber kein Laut entfuhr ihr. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schnappte laut nach Luft. Plötzlich kam sie sich wieder vor wie das Schulmädchen, das lügen und sich verstellen konnte, um die Eltern zu täuschen, wenn es sich heimlich in der
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