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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sehr sie ihre Eltern geliebt hatte. Sie wusste, dass sie es ihnen nie wieder würde sagen können. Ja, das war die bittere Gewissheit, die ihr der Tag gebracht hatte. Und sie fragte sich, ob ihre Eltern sie vermisst hatten.
    Sie schloss die Augen, fest, so fest, doch wenn sie dies tat, dann sah sie nur jenes Bild vor sich, das sie zu vergessen trachtete. Margo Gold, deren Körper tot und verrenkt in dem Flügel lag.
    Wie war sie gestorben?
    Hatte sie leiden müssen?
    Hatte sie Reue gefühlt?
    Angst?
    Verzweiflung?
    Wusste sie, warum man sie getötet hatte?
    Vesper dachte an die schönen Momente ihrer verdrängten Kindheit; an eine Mutter, die exotische Gerichte kochte, wenn sie einmal zu Hause war, in kaum mehr als einer kurzen hektischen Pause, bevor sie zur nächsten Tournee aufbrach.
    Verdammt, warum musste man immer an die schönen Momente denken und nicht an alles andere?
    Du wirst eine mutige Prinzessin sein.
    Sie dachte an Amalia, ihre Schwester, die neben ihr auf der Bettkante saß und ihr Geschichten vorlas; an Eltern, die manchmal sogar Hand in Hand und glücklich neben ihr und ihrer Schwester hergingen; an seltene Picknicks im Spreewald, alle auf einem großen Tuch sitzend und die Sonne genießend, während das kleine Mädchen, das Vesper
damals gewesen war, beschwingt und lebhaft hin und her rannte, Blumen auf einer Wiese sammelte, mit den Brotkrumen nach den trägen Enten im Wasser warf, lachte und quietschte und an den niedrigen Ästen der Bäume hangelte.
    Doch die Ränder dieser Bilder krümmten sich in der Hitze der Flammen, die das große Haus am Theresienstieg auffraßen.
    »Was soll ich jetzt nur machen?«, fragte sich Vesper laut, und selbst die eigene Stimme ließ sie zusammenzucken.
    Ja, was sollte sie jetzt tun?
    Was?
    Sie war keine mutige Prinzessin. Nein, ganz sicher nicht. Sie war nur allein und durcheinander.
    Es war kalt, und die Stadt war ihr fremd.
    Sie dachte an das Wolfwesen, das ihr gefolgt war. Der Zug hielt erst wieder in Bremen an, doch vielleicht war die Kreatur schon früher abgesprungen. Würde das Wesen ihr bis hierher folgen? Noch immer hatte sie Mühe zu begreifen, dass die Dinge, die sie erlebt hatte, wirklich so geschehen waren.
    Warum willst du mich fressen?, hatte sie den Wolf gefragt.
    Du bist eine von ihnen. Mehr hatte er nicht gesagt.
    Sie seufzte.
    Eine von ihnen …
    Was meinte er nur damit? Hatte ihre Mutter sterben müssen, weil sie eine Gold war?
    Vesper schloss die Augen, spürte die Tränen brennen.

    Ihre kleine Welt war binnen weniger Augenblicke verschwunden, einfach so. Nichts, aber wirklich gar nichts, war mehr so, wie es hätte sein sollen. Sie war jetzt ein richtiges Waisenkind, wie in den Geschichten, die ihre Schwester ihr damals erzählt hatte, wenn sie traurig gewesen war.
    Doch wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass sie beide Eltern verlor, innerhalb von nur wenigen Tagen?
    Gab es da einen Zusammenhang?
    Natürlich, es musste da einen Zusammenhang geben, denn seltsame Zufälle wie dieser hier, die gab es gar nicht.
    Vesper zitterte. Sie kauerte an der Heizung und ertrank in der Wärme, die klappernd und keuchend die Wohnung erfüllte.
    Du bist eine von ihnen.
    Ja, nur so konnte es gewesen sein. Es musste etwas mit ihrer Familie zu tun haben. Doch was? Warum musste Margo Gold sterben?
    Vesper spürte die Trauer, die ihr den Hals zuschnürte.
    Vielleicht aus demselben Grund wie ihr Vater. War der Wolf womöglich das gleiche Wesen, das vor wenigen Tagen in Berlin gesichtet worden war? War der Gesichtslose jene Gestalt von den Landungsbrücken, die ihr, da war sie sich jetzt sicher, seit einiger Zeit folgte?
    Fragen über Fragen.
    Und der seltsame Junge aus der Kunsthalle? Wohin gehörte der?
    Sie begann immer mehr zu zittern, trotz der Wärme, die sie umgab. Draußen senkte sich die Nacht über die Stadt.

    Gab es vielleicht sogar mehrere dieser Wesen? Waren die Wölfe in mehreren Städten unterwegs?
    Sie schüttelte den Kopf.
    Nein, nein, nein, das war nicht einmal ein richtiger Wolf gewesen. Es war ein Ding aus den Träumen eines kleinen Mädchens, das da draußen niemand richtig sehen konnte. Kein einziger Mensch hatte die Kreatur beachtet, als sie in den Bahnhof geflüchtet war.
    Dennoch hatten die Passanten, an denen die Kreatur vorbeigekommen war, ihre Gegenwart wahrgenommen.
    Vesper öffnete die Augen, blinzelte.
    Dann fiel ihr Blick auf die Post.
    Sie lag auf dem Boden neben der Tür, wo sie sie einfach und wie immer hatte fallen

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