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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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käme, sehr überraschend kommen würde. Hatte er auch gewusst oder gedacht, dass sein Tod etwas mit den Wölfen zu tun haben würde?
    Hüte dich vor den Wölfen.
    Vesper bekam eine Gänsehaut.
    Und dem, was ihnen folgt.
    Der Mann im Mantel?
    Sie bemerkte, dass sie unruhig nach draußen in die Nacht schaute. Nicht einmal die Schneeflocken konnten der Dunkelheit die Kälte nehmen. Nicht jetzt, nicht heute.
    Dann wickelte sie den Ring aus dem Tuch.
    Der Ring gehört jetzt Dir.
    Ein kleiner grüner glatter Stein in einer verspielten Fassung aus Kupfer, das war der Ring.
    Trage ihn immer bei Dir.
    Sie drehte ihn um, ertastete die filigranen Verzierungen. Er schien ihr zu groß zu sein, doch dann, als sie ihn über den Mittelfinger ihrer rechten Hand streifte, passte er auf einmal wie angegossen. Er fühlte sich warm an, und sie konnte in dem Stein ihr Spiegelbild erkennen, matt und in weiter Ferne, wie von jemandem, der nur noch eine Erinnerung ist.
    »Du bist wunderschön«, sagte sie laut, und der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie.
    Der Ring antwortete nicht.

    Diesmal.
    Bring den Schlüssel zu Friedrich Coppelius.
    Woher kannte sie den Namen nur?
    Friedrich Coppelius?
    Der Name war ihr wie eine alte Erinnerung.
    Er war, glaubte sie dem Notar, ein alter Schauspieler, der sich in Blankenese zur Ruhe gesetzt hatte.
    Nun denn, vermutlich jemand, mit dem ihr Vater zusammengearbeitet hatte, damals, als er noch richtig gute Filme gemacht hatte und nicht alle Energie darauf verwendet hatte, den jungen Mädchen, die so alt wie seine Tochter waren, am Set und im Studio hinterherzusteigen. Die Filme aus den besseren Zeiten der Familie Gold.
    Den goldenen Zeiten, in denen es noch zwei Gold-Schwestern gegeben hatte.
    Friedrich Coppelius.
    Ein Schlüssel - und ein Ring.
    Fast hätte sie lachen müssen. Sie starrte den Schlüssel an und fragte: »Bist du meine Spur aus Rosenstaub?«
    Du meine Güte, wie lange hatte sie nicht mehr daran gedacht? Die Erinnerung kehrte so schwungvoll zu ihr zurück, dass sie beinah das Gleichgewicht verloren hätte.
    Das Märchen vom Blumenmädchen.
    Wie oft hatte Amalia ihr davon erzählt. Immer hatte Vesper ihr andächtig gelauscht, und später, als sie größer gewesen war, da hatte Amalia ihr die Moral der Geschichte erklärt - eine Moral, die sogar zu einer Art geflügeltem Wort in der Familie Gold geworden war, später.

    Vor langer Zeit, so hatte es begonnen, da lebte in einer großen Stadt ein Blumenmädchen namens Rosa.
    Mit einem Mal war Vesper, als könne sie wieder die Stimme ihrer Schwester hören.
    So klar und deutlich, als sei sie niemals verstummt. Sie war wieder ein Kind, und ihre große Schwester lag neben ihr im Bett, und während draußen der Regen gegen die Fenster und auf die Dachziegel prasselte, ließ Vesper sich ins Märchenland entführen.
    Wie eigenartig, dass sie gerade jetzt daran denken musste. Wie durch und durch merkwürdig …
    Denn vor langer Zeit, da lebte tatsächlich in einer großen, großen Stadt ein Blumenmädchen namens Rosa.
    Vesper hatte das niemals angezweifelt; jedes Wort hatte sie Amalia geglaubt, vorbehaltlos und hingebungsvoll.
    Die Eltern des Blumenmädchens waren früh gestorben, und so lebte es bei seinem Onkel und seiner Tante, die grimmige und herzlose Menschen waren und keine Gelegenheit ausließen, die kleine Rosa das Leid und die Kälte der Welt spüren zu lassen. Jeden Tag ging Rosa mit einem Korb voller Blumen hinaus in die endlose Stadt, die ringsum bis zum Horizont reichte, und erst am Abend kehrte sie müde und hungrig nach Hause zurück. Die wenigen Taler, die sie verdiente, musste sie abgeben, damit der Onkel sich Tabak und die Tante sich neue Kleider kaufen konnte.
    Als dann eine Hungersnot über die Stadt kam, da beschlossen der Onkel und die Tante, das Mädchen in einen der äußeren Randbezirke der Stadt zu führen. Dort, so sagten sie ihr, sollte sie Blumen verkaufen, dort, so logen sie, gebe es neue Kunden. Sie würde dort einen Tag lang ihre frischen Blumen feilbieten,
während der Onkel und die Tante wichtige Besorgungen machen würden.
    Doch in der Nacht, bevor sie in diesen entlegenen Teil der Stadt aufbrachen, belauschte Rosa die beiden. So wusste sie, was die beiden vorhatten. Sie wusste, dass sie den Weg nach Hause allein nicht mehr finden würde, und sie fürchtete sich vor der großen, großen Stadt, die gierig war und Einsame und Verlorene auffraß, das sagte jeder. Sie verhungerten oder fielen bösen Banden zum

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