Grimm - Roman
die Polizisten an, und ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« Sie schnappte nach Luft. »Was soll ich denn getan haben?« Sie rieb sich die Augen, schlug die Hände vors Gesicht, atmete tief durch. »Sie ist jetzt tot, und ich habe immer noch nicht wirklich kapiert, dass es so ist.« Nach einer Weile des unangenehmen Schweigens sah sie die Polizisten an. »Wenn sie Feinde hatte, dann weiß ich es nicht.« Und kleinlaut und schwach fügte sie
hinzu: »Ich war jedenfalls nicht ihr Feind.« Sie schluckte schmerzhaft. »Nur ihre Tochter, mehr nicht.« Sie schaute Lettinger an, und ihre Stimme krächzte. »Heute ist nicht mein Tag.« Sie erhielt natürlich keine Antwort, nur einen mitleidigen Blick, auf den sie gut und gern verzichten konnte. »Bitte, gehen Sie jetzt.« Ihre Stimme klang rau und brüchig. »Stellen Sie mir Ihre Fragen ein andermal. Ich …« Die Tränen kamen einfach so, wie bestellt. »Ich wäre jetzt einfach nur gern allein …«
Die beiden Polizisten blickten sie verlegen an. »Fräulein Gold, wir wollten nicht …«
»Wirklich nicht«, sagte auch Hoffmann.
Vesper war zufrieden mit ihrer Vorstellung. »Schon gut, ich weiß. Es ist nur so, dass …« Sie schluckte. »Sie ist tot. Gestern habe ich ihr nur Ärger in der Schule gemacht. Kann sein, dass ich dort gefeuert werde. Sie war sauer und ging auf Reisen. Und jetzt das. Was glauben Sie, wie ich mich gerade fühle?«
»Es tut uns leid«, sagte Lettinger.
»Mir auch«, gestand Vesper. Dann geleitete sie die beiden zur Tür. »Wenn es noch Fragen gibt - Sie wissen ja, wo ich wohne.«
»Sie sind noch minderjährig«, stellte Hoffmann fest.
Gut beobachtet, dachte Vesper. Sagte aber nur: »Ja.«
»Wer kümmert sich jetzt um Sie?«
»Es gibt da eine Tante«, log sie.
Die beiden Polizisten nickten. »Melden Sie sich doch innerhalb der nächsten Tage noch einmal bei uns.« Er gab ihr eine Telefonnummer.
Dann verabschiedeten sich die beiden und verließen endlich die Wohnung.
Vesper ließ die Tür hinter ihnen ins Schloss fallen und atmete tief durch. Sie zitterte.
Sie hatte gelogen und sich immerhin so gut verstellt, dass ihr Vater stolz auf sie gewesen wäre.
Trotzdem …
Sie steckte in der Klemme.
Eine Nachbarin hatte jemanden gesehen, der sich auf dem Grundstück herumtrieb. Und das bedeutete …
Was?
Wenn die Polizei herausbekam, dass sie heute Nachmittag ihrer Mutter einen Besuch abgestattet hatte, in eben jenem Moment, als die Flammen ausgebrochen waren, dann würde sie ein wirklich sehr, sehr ernsthaftes Problem haben. Immerhin war sie diejenige gewesen, die das Anwesen in Brand gesteckt hatte. Sie hatte das Feuerzeug und das Deo irgendwo im Salon fallen lassen. Warum hatte sie vorher nicht daran gedacht? Irgendwann würde man beides finden. Und was dann? Ihre Fingerabdrücke waren auf beiden Gegenständen. Meine Güte, sie kannte nur die blöden Krimis aus dem Fernsehen, und eigentlich kannte sie gar keine Krimis, weil sie das Fernsehen hasste und das Theater liebte, aber sie konnte sich an die alten Krimis erinnern, die sie als kleines Mädchen angeschaut hatte, an schwarz-weiße Edgar-Wallace-Filme mit Joachim Fuchsberger und Klaus Kinski und die Abenteuer von Heinz Rühmann als Pater Brown. Fanden sie dort nicht immer Fingerabdrücke? Und stellten sie den Verdächtigen
nicht so lange Fragen, bis sie sich verrieten? Ihre Mitschüler schauten sich alle CSI und Akte X und den ganzen Mist an.
Ein Lügner, erinnerte sie sich wieder an die Worte ihres Vaters, muss ein gutes Gedächtnis haben.
»Auch das noch«, sagte sie laut, als es ihr bewusst wurde.
Es gab natürlich Hinweise darauf, dass sie am Theresienstieg gewesen war, ganz gewiss gab es die.
Und wenn sie dahinterkamen, dass sie dort gewesen war, was dann?
Ja, dann, da war sie sich sicher, würden sie nach einem Motiv suchen. In den Filmen taten sie das immer.
Die winzigen Puzzlestücke setzten sich in Vespers Kopf zu einem düsteren Bild zusammen. Es war wie eine Filmmontage, die schnelle Rückblenden hintereinander präsentiert. Ihr Vater war gerade erst gestorben, ein berühmter Regisseur. Ihre Mutter war in ihrem eigenen Haus verbrannt, nachdem Vesper, die böse und verlorene Tochter, ihr einen Besuch abgestattet hatte. Ein berühmter Regisseur, sehr wohlhabend. Eine Diva, ebenfalls gut betucht.
Und ihre einzige noch lebende Tochter würde ab sofort nicht länger als arme Theaterschneiderin arbeiten müssen. Sie müsste nicht
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