Grimm - Roman
Ihnen seinen Ring geschickt.« Voller Ehrfurcht betrachtete Coppelius das Schmuckstück.
»Maxime war damals zum Hüter des grünen Splitterstücks auserkoren worden. Das andere der beiden Splitterstücke ging an …« Er hielt inne, murmelte leise und nahezu unverständlich: »Nun ja, das ist unwichtig.« Er löste den Blick von dem Ring und sah Vesper in die Augen. »Sie haben den Ring, und das ist gut so. Er kann Ihnen helfen, wissen Sie?!«
»Helfen? Wobei?«
»Ach, wenn Sie nur wüssten, was Sie da am Finger tragen, junges Fräulein.« Er senkte den Kopf und nippte an seinem Tee. »Ihr Vater, ich, all die anderen«, erinnerte er sich, »wir haben die überlieferten Geschichten gekannt. Wir wussten, was einst geschehen war. Und doch waren wir so unwissend wie Kinder. Wir gehörten einer Generation an, die nur das Wissen bewahren musste, kaum mehr. Keiner von uns dachte auch nur im Traum daran, dass jemals wieder erwachen würde, was einst verbannt worden war.«
Vesper beugte sich vor. Das, was sie hörte, klang völlig verrückt. Wie aus einem der Drehbücher, die ihr Vater so gemocht hatte. Und hätte sie gestern nicht mit eigenen Augen das Wolfswesen - den Menschenwolf - gesehen, so wäre sie womöglich enttäuscht und wütend aus dem Fischerhaus gestürmt. Eingedenk dieser Begegnung blieb sie jedoch und war offen für alles, was über die Lippen des alten Mannes kam.
»Kennen Sie das Bild dort?«
»Das Eismeer?« Sie dachte an den Besuch im Museum. »Mein Vater mochte es.«
»Dort fing es an.« Er seufzte. »Hat er Ihnen jemals die Geschichte erzählt?«
»Er hat mir nur Märchen erzählt.«
Coppelius sah sie müde an. »Märchen, ja, die sind wichtig. Sie erklären uns nicht nur, dass es Drachen gibt, sondern, was viel wichtiger ist, sie zeigen uns auf, wie man die Drachen besiegen kann.« Er lächelte versonnen. »Chesterton hat es, wie so vieles andere, auf den Punkt gebracht.«
Vesper hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Entschuldigen Sie.« Coppelius schüttelte das Haupt und sog an der Pfeife. »Ich schweife ab. Das Laster eines geschwätzigen alten Mannes, der all die Jahre über schweigen musste.« Er blies den Rauch in den Raum. »Doch lassen Sie uns über die Bohemia reden«, begann er schließlich und wollte gerade eine weitere Ausführung beginnen, als es an der Tür klopfte.
Vesper und Coppelius sahen einander an.
»Erwarten Sie noch Besuch?«, fragte Vesper.
»Könnte sein«, flüsterte er geheimnisvoll und zwinkerte ihr zu. Dann erhob er sich, und der Sessel ächzte, als wolle er ihn nicht gehen lassen. »Sie sind nicht das einzige Waisenkind, das durch die Welt irrt.«
Während er in gemächlichem Tempo das Wohnzimmer verließ und zur Tür ging, fragte sich Vesper, was genau er damit nun wieder gemeint hatte. Gab es etwa noch andere Kinder wie sie? Kinder, die in den letzten Tagen ihre Eltern verloren hatten? Erneut fiel ihr Blick auf die Zeitungen und die Schlagzeilen von überraschenden Unglücken und seltsamen Vorkommnissen.
Eine verwehte Spur aus Rosenstaub.
Hüte dich vor den Wölfen.
Plötzlich fühlte sie sich wie ein Tier in der Falle. Mit einem Mal kam sie sich dumm und naiv vor. Sie saß hier in diesem fremden Haus in Blankenese und hörte sich die Geschichten an, die dieser Mann ihr erzählte. Doch hatte sie gestern zunächst nicht einmal erkannt, dass sie nicht ihrer eigenen Mutter gegenüberstand. Wie also konnte sie sich jetzt sicher sein, in dem alten Mann wirklich Friedrich Coppelius gefunden zu haben?
Doch nein, dieses Misstrauen war absurd.
Ihr Vater hatte sie hierhergeschickt.
Der Notar hatte ihr die Anschrift genannt. Und der Notar hätte sie doch nicht angelogen, oder?
Dennoch - konnte es eine Falle sein? Hatte man sie in böser Absicht hierhergelockt, während sie sich in Sicherheit wiegte?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, alles in ihr spannte sich an, war bereit zur Flucht.
Doch wohin? Und - wovor ?
Hatte der alte Mann denn nicht ruhig gewirkt, als er das plötzliche Klopfen vernommen hatte? Sicherlich erwartete er jemanden, womöglich, das hatte er schließlich angedeutet, nur ein weiteres Waisenkind, dessen Eltern in irgendeiner Verbindung zu dieser geheimnisvollen Gesellschaft namens Bohemia gestanden hatten - und im Zuge eines tragischen Unfalls oder höchst unverhofft durch einen bösen Schicksalsschlag gestorben waren.
Wie auch immer - Vesper konnte nichts tun als warten.
Sie hörte, wie der alte Mann die Tür öffnete.
Das war doch
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