Grimm - Roman
alles verrückt, total überdreht.
Oder?
Im Hintergrund sang jetzt Lisa Lesco. Musik, die ihrer Mutter nicht gefallen hätte. Ihrem Vater schon.
Fräulein, Sie dürfen heut nicht allein sein.
Was sollte sie tun, wenn der alte Mann gar nicht Friedrich Coppelius war? Wenn der Besucher an der Tür sich als jemand herausstellte, der ihr nachstellte?
Menschenwolf, Menschenwolf.
Vesper biss sich nervös auf die Lippe, ihr Herz hämmerte. Dummes Zeug! Sie schalt sich selbst eine Närrin.
Er war nett und skurril. Jemand, mit dem ihr Vater sich ganz bestimmt eingelassen hätte. Sie spürte es, und manchmal musste man doch auch seinen Gefühlen trauen.
Trotzdem!
Sie hatte Angst.
Plötzlich.
Unbändig.
Sie lauschte der Stimme des alten Mannes. Er begrüßte irgendjemanden, das war alles, was sie verstehen konnte.
Vesper erhob sich leise vom Sessel.
Wohin sollte sie gehen, falls etwas Böses ins Haus gekommen war?
Sie sah sich um.
In wachsender Panik.
Ein dumpfer Schlag hallte mit einem Mal laut durch die Diele, und das leise Knurren, das dem Schlag folgte,
machte ihr bewusst, dass sie in der Patsche saß. Die Stimme des alten Mannes war nur mehr ein Ächzen, Leben, das entwich, von Bedauern in matte Farben getaucht.
Hüte dich vor den Wölfen.
Vesper hätte am liebsten aufgeschrien.
Und dem, was ihnen folgt.
Der Weg nach draußen war ihr verwehrt. Sie wusste, dass der alte Mann tot war. Tief in ihr drinnen schrie diese Gewissheit all die bittere Verzweiflung des kleinen Mädchens, das sich früher in der Dunkelheit gefürchtet hatte, in die tiefrot pochende Stille ihres Herzens. So suchte sie nach dem Ausweg, der ihr verborgen blieb, und spürte, wie ihr die Zeit wie Sand durch die Finger rann, warm und heiß wie die letzten Tränen am Ende des Weges, während sich ihr das tiefe Knurren auf großen Pfoten unaufhaltsam näherte.
Der schattenkalte Hauch von einst
K eine einzige Sekunde zu spät verschwand Vesper Gold im Bauch der Uhr, deren Pendel unverdrossen weiterschwang und deren lange, spitze Zeiger sich mit dem Ticken des Takts bewegten, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Sie hatte die Lederjacke und den Rucksack unter den Sessel, auf dem sie eben noch Platz genommen hatte, geschoben, still hoffend, dass, wer auch immer gleich den Raum betreten würde, nichts davon bemerken würde. Sie dankte dem Schicksal und der Sammelleidenschaft des alten Mannes für die riesenhafte Standuhr und kam sich vor, als sei sie in einem düsteren Märchen gefangen. Sie war durch die große Tür an der Seite der Standuhr nach drinnen gelangt. So hatte sie mühelos einen Unterschlupf gefunden - und nun steckte Vesper in der Uhr, in dem Verschlag hinter der Pendelkammer, und versuchte sich und ihren Herzschlag zu beruhigen. Nur durch einen schmalen Schlitz konnte sie nach draußen ins Wohnzimmer spähen, wobei ihr Blick
im Sekundentakt vom vorbeischwingenden Pendel unterbrochen wurde.
Die Schallplatte, die Friedrich Coppelius aufgelegt hatte, spielte nun Beim ersten Mal, da tut’s noch weh . Hans Albers nölte mit der ihm eigenen, versoffen unvergleichlichen Stimme die Melodie, und es klang so lustlos, als habe man ihn gezwungen, dieses Lied zu singen. Des ungeachtet war die Musik ihr großes Glück, hatte sie doch die Geräusche überdeckt, die das Öffnen der Tür zwangsläufig mit sich gebracht hatte.
Vesper hielt den Atem an.
Um sie herum tickten Zahnräder und unsichtbare Mechanismen, klickte es still und leise und unaufhörlich.
Langsam, sehr langsam, wurde ihr Herzschlag ruhiger.
Sie wagte kaum zu blinzeln.
Durch den Spalt wurde sie einer männlichen Gestalt gewahr, die das Wohnzimmer betrat und sich umschaute. Sie war nicht ganz Mensch und auch nicht ganz Wolf, sondern etwas dazwischen. Sie hielt etwas mit der Hand gepackt, zerrte einen schweren Körper hinter sich her.
Vesper schluckte.
Als sie eben die Standuhr betrachtet hatte, da war ihr der Spalt hinter dem Pendel gar nicht aufgefallen. Die Glasscheibe, die vor dem Pendel war, spiegelte den Raum und verbarg, was dahinter lag. Inständig hoffte Vesper, dass diese Tarnung ihr nun Schutz bieten würde.
Die Kreatur jedenfalls, die das Wohnzimmer betreten hatte, schien sich der Gegenwart der jungen Frau in keiner Weise bewusst zu sein. Stattdessen galt ihre Aufmerksamkeit
dem alten Mann, der eben noch bereit gewesen war, Klarheiten in Vespers Leben zu bringen.
Die prankenartige Hand zerrte den Leichnam von Friedrich Coppelius in den Raum, ließ
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