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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ihn neben dem Schreibtisch auf den Teppich fallen. Dann schnüffelte die Gestalt, hielt den Kopf schief, verharrte still. Sie trug einen Mantel, und langes Haar wallte ihr bis über die Schulter. Alles an ihr wirkte zottelig, selbst der Stoff des Mantels wirkte wie Fell, das jemand mühsam glattgestrichen hatte, um ihm den Anschein von Arglosigkeit zu geben.
    Vesper spürte den Ring an ihrem Finger. Fast war ihr, als könne sie das Grün fühlen. Warm strahlte die Farbe eine leise Zuversicht aus, die sich die junge Frau wahrlich nicht erklären konnte.
    Denn insgeheim fluchte Vesper.
    Sie saß in der Falle.
    Wie hatte sie nur so dumm sein können!?
    Die Gestalt, die irgendwie unscharf wirkte, sah sich ausgiebig und ruhig die auf dem Schreibtisch verstreuten Artikel und Bücher an.
    Dann nahm sie etwas aus der Manteltasche, legte es behutsam auf den Schreibtisch und ging in die Küche. Vesper konnte nicht erkennen, um was genau es sich bei dem zurückgelassenen Gegenstand handelte. Es sah jedoch aus wie eine kleine Pflanze mit zarten Blättern. In einem Beutel voll tiefdunkler Erde steckte sie, und die Pflanzenstängel, die ebenso gut Tentakel oder auch Wurzeln hätten sein können, regten sich nicht.

    Aus der Küche drang das Geräusch des Wasserhahns herüber, und nach einem kurzen Augenblick kehrte die Gestalt mit einem Glas Wasser ins Zimmer zurück.
    Die Gestalt nahm die Pflanze und stellte sie in eine fleckige Kaffeetasse, die sie auf dem Schreibtisch fand, und diese dicht neben den leblosen Körper des alten Mannes auf den Teppich.
    Gleich darauf benetzte sie die kleinen Blätter mit einigen Tropfen des Wassers aus dem Glas und murmelte etwas in einer fremden Sprache, die Vesper noch nie zuvor gehört hatte.
    Dann erhob sich die Gestalt und wartete.
    Worauf?
    Vesper wusste es nicht.
    Sie wurde unruhig, weil sie spürte, dass gleich etwas passieren würde.
    Es war, als sei sie in einem Traum gefangen. Als könne sie nicht fortlaufen, egal, wie schnell sie rennen würde.
    Mit angestrengtem Blick versuchte sie etwas zu erkennen.
    Das Pendel der Uhr schlug hin und her.
    Tick, tack.
    Unaufhörlich.
    Und dann glaubte sie zu sehen, wie die Pflanze sich zu bewegen begann. Ja, sie streckte die dürren Stängel nach dem regungslosen Körper des alten Mannes aus.
    Die schlangenhaften Auswüchse der Pflanze berührten die faltige alte Haut, schienen in sie hineinzustechen und
tief ins Fleisch einzudringen. Was sie genau taten, vermochte Vesper nicht zu erkennen.
    Immer wieder fegte das Pendel vorbei und beschwor ein Schwindelgefühl in ihr herauf.
    Die Gestalt indes rührte sich nicht.
    Sie wartete.
    Vesper fragte sich, warum das Wesen sie nicht witterte. Sie war sich sicher, dass dies der Wolf - der Menschenwolf , so hatte Coppelius ihn genannt - aus dem Haus ihrer Mutter war.
    Sie spürte es.
    Die Gestalt sah jetzt aus wie ein Mann, aber die Unschärfe, die ihn umgab, hatte etwas Wölfisches und Boshaftes; etwas, was die Menschen am Bahnhof hatte zur Seite weichen lassen, sobald er sich ihnen genähert hatte.
    Er war ein Mensch, in dem der böse Wolf aus allen Märchen hauste; ein Wolf, der die Gestalt eines Menschen hatte. Der hungrige Menschenwolf aus Vespers Träumen.
    Das Ding, das sich in den sturmumtosten Träumen ihrer einsamen Kindheit an sie herangeschlichen hatte.
    Vesper atmete tief durch.
    Sie war dankbar für die Musik, die im Hintergrund lief.
    Lasst den Kopf nicht hängen.
    Lizzi Waldmüller.
    Wie passend!
    Wäre die beschwingte Melodie nicht gewesen, so hätte sie geglaubt, der Fremde müsse ihren Herzschlag einfach hören.

    Überdies schwebte noch der Geruch von Pfeifentabak im Raum. Der mochte die Kreatur zusätzlich täuschen.
    Das Pflanzending jedenfalls, das immer weiter anwuchs, schien das Blut des Toten zu trinken und wurde schnell größer. Die Blätter wurden flach und breit; es trieben fleischfarbene Blüten aus dem Grün. Die fahlen Knospen, die sich träge öffneten wie Münder, wuchsen zu unförmigen Gebilden heran, deren Konturen zu einer menschenähnlichen Gestalt verschwammen.
    Vesper hätte am liebsten laut aufgestöhnt, als ihr bewusst wurde, was da vor sich ging. Denn mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass das, was sie da erblickte, nichts anderes als Arme und Beine, ein Kopf, Hände mit Fingern, Haare und Fingernägel waren. Ein Torso schälte sich aus der wabernden grünen Masse heraus, gefolgt von einem Gesicht, dessen Beschaffenheit unruhig in immer wieder neue Formen floss, als

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