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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Einige Stellen darin waren mit gelben Klebezetteln markiert.
    »Ah, Sie haben sich bereits mit der Literatur vertraut gemacht«, sagte er, als er zurückkehrte. Coppelius balancierte ein silbernes Tablett mit zwei Tassen und einer Teekanne darauf.
    »Ich wollte nicht neugierig sein.«
    Er lachte laut auf. »Sie sind Fräulein Gold. Wenn Sie auch nur eine Spur nach Ihrem Vater geraten sind, dann
sind Sie ein äußerst unruhiger Geist, dessen bin ich mir sicher.«
    Vesper musste lächeln. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass dieser alte Mann ihren Vater besser gekannt haben könnte als sie selbst.
    Und als erriete er ihre Gedanken, sagte Coppelius: »Ihr Vater und ich lernten uns Anfang der Sechzigerjahre in München kennen.« Er stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab und bot Vesper einen Platz in einem der Sessel an. »Wir waren beide beim Film gelandet.«
    Vesper legte die Jacke ab und ließ sich in den Sessel sinken.
    »Blutjung und voller Energie waren wir, und wir wollten unsere Geschichten erzählen.« Der alte Mann schenkte ihr Tee ein und nahm in dem anderen Sessel Platz. »Max wollte damals schon Regie führen, und mein Herz, ja, meines, das hing schon immer an der Schauspielerei. Doch als wir einander über den Weg liefen, gehörten wir zu den allerkleinsten Rädchen im System, könnte man sagen.« Versonnen dachte er an die alten Zeiten. »Maxime war ein unbedeutender kleiner Drehbuchassistent bei einem neuen Film, den Frank Westlandt produzieren ließ. Das Geheimnis der schwarzen Mönche, nach einer Vorlage des damals überaus berühmten englischen Krimischreibers P. C. Kingsley. Ich war nur ein Kabeljunge, der Laufbursche des Kameramanns, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im selben Jahr drehten wir noch Der Fluch der indischen Schatulle , doch das war nicht wichtig. Wir lernten uns kennen und stellten fest, dass es kein Zufall war, dass wir
einander getroffen hatten. Unsere Eltern hatten sich bereits gekannt und alles in die Wege geleitet, damit wir uns begegneten.«
    Vesper hatte nicht die geringste Ahnung, was genau er ihr erzählen wollte.
    »Schon unsere Eltern nämlich waren Mitglieder der Bohemia «, erklärte er, als müsse sie vor Erleuchtung und Erkenntnis aufspringen, sobald er diesen seltsamen Namen auch nur nannte.
    Tat sie aber nicht.
    »Ich habe noch nie etwas davon gehört, ganz ehrlich.« Ihr Vater hatte früher alle möglichen Geschichten erzählt, aber diesen Namen hatte er niemals erwähnt, da war sie ganz sicher.
    Coppelius nickte traurig. »Ja, das war ein großer Fehler. Das war der Fehler, den wir alle begangen haben. Wir dachten, es sei alles vorbei. Und jetzt passieren wieder die gleichen seltsamen Dinge wie damals, in der alten Zeit.« Er atmete schwer. »Maxime ist tot. Margo ebenso.« Er rieb sich müde die alten Augen. »Viele andere auch. Niemand sieht heute mehr die Zusammenhänge, wenn er die Zeitungen liest, doch so fing es auch damals an.«
    »Was?«, fragte Vesper. »Was fing damals an?«
    »All diese Dinge. Die Kinder, die Träume, das Auftauchen der Wölfe.«
    Ihr schwindelte.
    Das war schon einmal passiert. »Wann?« Von welcher Zeit sprach der alte Mann?

    »Oh, das ist eine wirklich lange Geschichte. Wir müssen uns Zeit lassen, es geht leider nicht anders. Man muss alles der Reihe nach erzählen, junges Fräulein, sonst ergibt es keinen Sinn. Aber Sie haben ja schon einen von ihnen mit eigenen Augen gesehen, das macht es einfacher.«
    »Sie meinen das Wolfswesen.«
    »Früher haben wir sie Menschenwölfe genannt.« Er sah traurig aus, Furcht in der Erinnerung.
    »Menschenwolf«, flüsterte Vesper. Das klang nicht gut.
    Coppelius schwieg nachdenklich, sah zum Fenster hinaus.
    »Ja, Menschenwolf«, fuhr er schließlich fort. »Sie haben mit eigenen Augen gesehen, dass es derartige Wesen gibt. Sie wissen, dass sie existieren und nicht das Hirngespinst eines alten Mannes sind, der seine Zeit verrinnen sieht. Andernfalls hätte es sein können, dass Sie meine Worte als die eines senilen alten Schauspielers abgetan hätten, nicht wahr?! Doch jetzt, da Sie bereits einem begegnet sind …«
    Vesper schnaubte. »Nun erzählen Sie schon!«, drängte sie ihn, ebenso fasziniert wie unhöflich.
    Der alte Mann konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Sie sind genauso ungeduldig, wie Ihr Vater es immer war. Überhaupt, junges Fräulein, sind Sie ihm sehr ähnlich.«
    Sie schwieg.
    »Und wie ich sehe, hat er

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