Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
Herz vor Freude, und sie fiel auf die Knie und konnte sich gar nicht lassen. Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, und sie wurde ganz still. Und im siebenten Monat, da griff sie nach den Wacholderbeeren und ass sie so begehrlich; und da wurde sie traurig und krank. Da ging der achte Monat hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: »Wenn ich sterbe, so begrabe mich unter dem Wacholderbaum.«
Da wurde sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war: da kriegte sie ein Kind so weiss wie der Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, dass sie starb.
Da begrub ihr Mann sie unter dem Wacholderbaum, und er fing an, so sehr zu weinen; eine Zeitlang dauerte das, dann flossen die Tränen schon sachter, und als er noch etwas geweint hatte, da hörte er auf, und dann nahm er sich wieder eine Frau.
Mit der zweiten Frau hatte er eine Tochter; das Kind aber von der ersten Frau war ein kleiner Sohn, und war so rot wie Blut und so weiss wie Schnee. Wenn die Frau ihre Tochter so ansah, so hatte sie sie sehr lieb; aber dann sah sie den kleinen Jungen an, und das ging ihr so durchs Herz, und es dünkte sie, als stünde er ihr überall im Wege, und sie dachte dann immer, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte, und der Böse gab es ihr ein, dass sie dem kleinen Jungen ganz gram wurde, und sie stiess ihn aus einer Ecke in die andere, und puffte ihn hier und knuffte ihn dort, sodass das arme Kind immer in Angst war. Wenn er dann aus der Schule kam, so hatte er keinen Platz, wo man ihn in Ruhe gelassen hätte.
Einmal war die Frau in die Kammer hoch gegangen; da kam die kleine Tochter auch herauf und sagte: »Mutter, gib mir einen Apfel.«
»Ja, mein Kind«, sagte die Frau und gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste; die Kiste aber hatte einen großen schweren Deckel mit einem großen scharfen eisernen Schloss. »Mutter«, sagte die kleine Tochter, »soll der Bruder nicht auch einen haben?« Das verdross die Frau, doch sagte sie: »Ja, wenn er aus der Schule kommt.«
Und als sie ihn vom Fenster aus gewahr wurde, so war das gerade, als ob der Böse in sie gefahren wäre, und sie griff zu und nahm ihrer Tochter den Apfel wieder weg und sagte; »Du sollst ihn nicht eher haben als der Bruder.«
Da warf sie den Apfel in die Kiste und machte die Kiste zu. Da kam der kleine Junge in die Tür; da gab ihr der Böse ein, dass sie freundlich zu ihm sagte: »Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?« und sah ihn so jähzornig an. »Mutter«, sagte der kleine Junge, »was siehst du so grässlich aus! Ja, gib mir einen Apfel!« Da war ihr, als sollte sie ihm zureden. »Komm mit mir«, sagte sie und machte den Deckel auf, »hol dir einen Apfel heraus!«
Und als der kleine Junge sich hineinbückte, da riet ihr der Böse; bratsch! Schlug sie den Deckel zu, dass der Kopf flog und unter die roten Äpfel fiel. Da überlief sie die Angst, und sie dachte: »Könnt ich das von mir bringen!« Da ging sie hinunter in ihre Stube zu ihrer Kommode und holte aus der obersten Schublade ein weisses Tuch und setzt den Kopf wieder auf den Hals und band das Halstuch so um, dass man nichts sehen konnte und setzt ihn vor die Türe auf einen Stuhl und gab ihm den Apfel in die Hand.
Darnach kam Marlenchen zu ihrer Mutter in die Küche. Die stand beim Feuer und hatte einen Topf mit heissem Wasser vor sich, den rührte sie immer um. »Mutter«, sagte Marlenchen, »der Bruder sitzt vor der Türe und sieht ganz weiss aus und hat einen Apfel in der Hand. Ich hab ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er antwortet mir nicht; das war mir ganz unheimlich.«
»Geh noch einmal hin«, sagte die Mutter, »und wenn er dir nicht antwortet, dann gib ihm eins hinter die Ohren.« Da ging Marlenchen hin und sagte: »Bruder, gib mir den Apfel!« Aber er schwieg still; da gab sie ihm eins hinter die Ohren. Da fiel der Kopf herunter; darüber erschrak sie und fing an zu weinen und zu schreien und lief zu ihrer Mutter und sagte: »Ach, Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen«, und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben.
»Marlenchen«, sagte die Mutter, »was hast du getan! Aber schweig nur still, dass es kein Mensch merkt; das ist nun doch nicht zu ändern, wir wollen ihn in Sauer kochen.« Da nahm die Mutter den kleinen Jungen und hackte ihn in Stücke, tat sie in den Topf und kochte ihn in
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