Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
zur Tür hinein: »Frau, komm mal heraus, da ist ein Vogel; sieh doch den Vogel, der kann mal schön singen.«
Dann rief er noch seine Tochter und die Kinder und die Gesellen, die Lehrjungen und die Mägde, und sie kamen alle auf die Strasse und sahen den Vogel an, wie schön er war; und er hatte so schöne rote und grüne Federn, und um den Hals war er wie lauter Gold, und die Augen blickten ihm wie Sterne im Kopf. »Vogel«, sagte der Schuster, »nun sing mir das Stück noch einmal!«
»Nein«, sagte der Vogel, »zweimal sing ich nicht umsonst, du musst mir etwas schenken.«
»Frau«, sagte der Mann, »geh auf den Boden, auf dem obersten Wandbrett, da stehen ein paar rote Schuh, die bring mal her!« Da ging die Frau hin und holte die Schuhe. »Da, Vogel«, sagte der Mann, »nun sing mir das Lied noch einmal!« Da kam der Vogel und nahm die Schuhe in die linke Kralle und flog wieder auf das Dach und sang:
»Mein Mutter der mich schlacht,
mein Vater der mich ass,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Wacholderbaum.
Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!«
Und als er ausgesungen hatte, da flog er weg; die Kette hatte er in der rechten und die Schuhe in der linken Kralle, und er flog weit weg, bis zu einer Mühle, und die Mühle ging: Klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe. Und in der Mühle sassen zwanzig Mühlknappen, die klopften einen Stein und hackten: Hick hack, hick hack, hick hack; und die Mühle ging klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe. Da setzte sich der Vogel auf einen Lindenbaum, der vor der Mühle stand und sang:
»Mein Mutter der mich schlacht«,
da hörte einer auf; »mein Vater der mich ass«, da hörten noch zwei auf und hörten zu; »mein Schwester der Marlenichen«, da hörten wieder vier auf; »sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuc«, nun hackten nur acht; »legt’s unter«, nun nur noch fünf; »den Wacholderbaum« – nun nur noch einer; »Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!« Da hörte der letzte auch auf, und er hatte gerade noch den Schluss gehört. »Vogel«, sagte er, »was singst du schön! Lass mich das auch hören, sing mir das noch einmal!«
»Nein«, sagte der Vogel, »zweimal sing ich nicht umsonst; gib mir den Mühlenstein, so will ich das noch einmal singen.«
»Ja«, sagte er, »wenn er mir allein gehörte, so solltest du ihn haben.«
»Ja«, sagten die anderen, »wenn er noch einmal singt, so soll er ihn haben.« Da kam der Vogel heran und die Müller fassten alle zwanzig mit Bäumen an und hoben den Stein auf, »hu uh uhp, hu uh uhp, hu uh uhp!« Da steckte der Vogel den Hals durch das Loch und nahm ihn um wie einen Kragen und flog wieder auf den Baum und sang:
»Mein Mutter der mich schlacht,
mein Vater der mich ass,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Wacholderbaum.
Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!«
Und als er das ausgesungen hatte, da tat er die Flügel auseinander und hatte in der echten Kralle die Kette und in der linken die Schuhe und um den Hals den Mühlenstein, und flog weit weg zu seines Vaters Haus.
In der Stube sass der Vater, die Mutter und Marlenchen bei Tisch, und der Vater sagte: »Ach, was wird mir so leicht, mir ist so recht gut zumute.«
»Nein«, sagte die Mutter, »mir ist so recht angst, so recht, als wenn ein schweres Gewitter käme.« Marlenchen aber sass und weinte und weinte. Da kam der Vogel angeflogen, und als er sich auf das Dach setzte, da sagte der Vater: »Ach, mir ist so recht freudig, und die Sonne scheint so schön, mir ist ganz, als sollte ich einen alten Bekannten wiedersehen!«
»Nein«, sagte die Frau, »mir ist angst, die Zähne klappern mir und mir ist, als hätte ich Feuer in den Adern.« Und sie riss sich ihr Kleid auf, um Luft zu kriegen. Aber Marlenchen sass in der Ecke und weinte, und hatte ihre Schürze vor den Augen und weinte die Schürze ganz und gar nass.
Da setzte sich der Vogel auf den Wacholderbaum und sang: »Meine Mutter die mich schlacht« – Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zu und wollte nicht sehen und hören, aber es brauste ihr in den Ohren wie der allerstärkste Sturm und die Augen brannten und zuckten ihr wie Blitze. »Mein Vater der mich ass« – »Ach Mutter«, sagte der Mann, »da ist ein
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