Grimpow Das Geheimnis der Weisen
übernatürliche Kräfte besitzen wie unsichtbare Augen, die imstande sind, über die Wirklichkeit und die Zeit hinauszuschauen. Wenn Ihr möchtet, kann ich Euch zeigen, wie man sie auslegt.«
Der Baron ließ die Karten immerfort durch seine rauen Hände gleiten, als wollte er sie durch die Berührung kennenlernen. Er verfiel eine Weile in Stillschweigen, ohne sich anmerken zu lassen, dass er sich unglaublich begünstigt fühlte, diese fremdartigen Karten zu besitzen.
»Ihr seid also sicher, dass sich mit diesen Karten die Zukunft deuten lässt?«
»Nicht allein die Zukunft, Baron, auch die Vergangenheit «, erwiderte Salietti im Brustton der Überzeugung. »Setzt Euch und gestattet, dass ich es Euch vorführe.«
Fenio de Vokko und der Ritter nahmen am Tisch Platz, von dem aus der Baron täglich seine Angelegenheiten mit den Vasallen erledigte, während das Licht einer Fackel hinter ihnen lange Schatten warf.
Salietti verteilte die zweiundzwanzig Karten in vier Reihen zu fünf Karten auf dem Tisch. Zum Schluss legte er noch je eine einzelne Karte mittig über und unter den Kartenblock. Er hatte sie verdeckt ausgelegt, sodass sie alle gleich aussahen. Die Rückseite bestand aus zwei gekreuzten Silberschwertern vor einem wolkenlosen blauen Himmel mit Sonnenuntergang.
Der Baron war so gespannt, dass er sogar vergaß, seinen Gastgeberpflichten entsprechend im Waffensaal noch einmal seine Aufwartung zu machen, bevor er sich zur Nachtruhe in seine Gemächer zurückzog.
»Nehmt die Karte auf, die Euch am stärksten lockt«, forderte ihn Salietti höflich auf.
Fenio de Vokko ließ den Blick über die Auslage schweifen, als suchte er, das Rätsel unter dem stumm wiederholten Motiv zu ergründen. Schließlich hielt er bei einer Karte inne und drehte sie um.
»Die Verliebten!«, rief der Ritter aus, als er die Gestalten von Mann und Frau sah, die sich unter einer strahlenden Sonne an der Hand hielten. »Ihr hättet nicht besser beginnen können.«
»Verheißt sie mir Glück in der Liebe?«, fragte der Baron verdutzt.
»Daran besteht kein Zweifel. Es ist eine großartige Karte, die Euch Freude, Wohlbefinden und Leidenschaft voraussagt. Wenn im Moment Eure Liebe auch nicht erwidert wird, wie ich in Euren enttäuschten Augen lese, so ruft Euch diese Karte laut und deutlich zu, dass Euer Liebeskummer bald beendet sein und einer unvergänglichen Liebe weichen wird. In nicht allzu langer Zeit wird Euer Glück nicht größer sein können.«
Der Baron lächelte zufrieden und wählte die nächste Karte: das Bild einer großartig gezeichneten Pyramide, deren Spitze von einem Blitz gespalten wurde.
Bei ihrem Anblick schien Salietti in eine tiefe Trance zu fallen.
Ungeduldig fragte Fenio de Vokko in das Schweigen hinein: »Was seht Ihr?«
Salietti ließ sich mit seiner Antwort Zeit, dann raunte er geheimnisvoll: »Ich sehe, dass die Erde unter der Helligkeit Eures Schwertes erbeben wird, das wie ein Blitz vom Himmel fährt, um uneinnehmbare Mauern und Türme zu vernichten. Und ich sehe Euch sieghaft aufgerichtet nach blutigen Schlachten, die in den Lauf der Geschichte eingreifen werden. Vor dem Glanz, der Euch erwartet, wird die Vergangenheit wie eine traurige Erinnerung verblassen. Wählt nun eine weitere Karte, die nach einer Seite wenigstens zwei Reihen von der ersten Reihe entfernt liegen muss, und zeigt sie mir.«
Vor Glück strahlend, wählte der Baron seine dritte Karte und drehte sie um. Darauf erschien das Bild eines Wagenrads, umgeben von sonderbaren Zeichen, die er nicht zu lesen verstand.
Ehe er seine Frage aussprechen konnte, kam ihm Salietti zuvor: »Das ist das Glücksrad. Heute Nacht scheint Euch das Glück hold zu sein.«
»Was hat es zu bedeuten?«, forschte Fenio de Vokko unumwunden.
Salietti setzte eine kundige Miene auf. »Ihr seid mit großer Entschiedenheit auf der Suche nach etwas, das sich Eurem Zugriff entzieht. Es ist eine Sache, die Euch vor langer Zeit zu Unrecht verweigert wurde. Ich weiß nicht...«, er stockte. »Vielleicht ein Schatz... nein!«, korrigierte er sich nach einer Pause, schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen. »Es muss etwas sehr viel Kostbareres sein.«
»Kostbarer als ein Schatz?«, fragte der Baron, der seine Anspannung nicht länger verbergen konnte.
»Ja, es ist etwas Glattes, Glänzendes. Es wird von vielen Männern begehrt, die verzweifelt danach suchen. Aber nur wenige Auserwählte vermögen, es zu finden.«
Die Augen des Barons bewegten sich rastlos in
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