Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Dem Knappen ging aber auch durch den Sinn, dass der Ritter das nur tat, damit er nicht sehen konnte, was sein Herr schrieb.
»Keine Sorge, ich gebe es dir gleich zu lesen«, sagte Salietti, der seine Gedanken erriet.
Dann schrieb er auf Grimpows Rücken in einer Handschrift, die eher zu einem Mönch aus einer Schreibstube als zu einem fahrenden Ritter passte:
In den Sternen liegt Magie
und Vollmondnächte üben Zauber aus.
Sieh sie dir an, dann offenbaren sie dir deine Träume.
»Ist das für das Mädchen?«, fragte Grimpow, nachdem er die Botschaft gelesen hatte.
»Ganz recht.«
»Ist das etwa auch ein Kryptogramm?«, fragte der Junge.
»Nicht ganz. Sie wird es verstehen.«
»Willst du denn nicht deinen Namen daruntersetzen?«
»Mein Name wird ihr nichts sagen«, erwiderte Salietti, dem die Fragerei seines Knappen allmählich auf die Nerven ging. »Nun hör mir mal gut zu. Während ich versuche, mit dem Baron zu sprechen, gehst du zu den Stallungen und tust so, als wolltest du dich um unsere Pferde kümmern. Sieh aber zu, dass du Guival triffst. Sobald du dich unbeobachtet weißt, gibst du ihm eine weitere Goldbohne und richtest ihm aus, er möge der Tochter des alten Gandalf Labox möglichst rasch diese Botschaft hier zuspielen.«
Keines der Rätsel und Geheimnisse, mit denen Grimpow sich in den vergangenen Monaten beschäftigt hatte, spannte ihn mehr auf die Folter als die Angelegenheit, der Salietti gerade nachging. Während sie sich im Schein der Fackeln zwischen den unzähligen Soldaten, Rittern, Knappen, Dienern, Fuhrwerken und Pferden hindurchzwängten, die in den verschiedenen für die vielen Turnierteilnehmer in der Festung hergerichteten Quartieren ein- und ausgingen, schwirrte Grimpow der Kopf vor lauter Fragen. Wer war Gandalf Labox? Warum hatte er in der Kirche von Cornille das Geheimnis der Weisen gesucht? Was verband ihn mit Salietti? Was drängte diesen dazu, sich so für die eingesperrte Weynelle einzusetzen? Auch zerbrach er sich den Kopf über den Text von Saliettis Botschaft und fragte sich, ob Salietti sich vielleicht ebenfalls in das Mädchen verliebt hatte. Wenn ja, wo, wie und wann hatte er sie dann kennengelernt? Schließlich hatten sie außer mit der Wirtin der schmuddeligen Schenke in Ullense mit keiner Dame oder Frau mehr ein Wort gewechselt, seit sie gemeinsam zu ihrer Reise aufgebrochen waren.
Die Karte Der Tod
N achdem Salietti eine Weile durch feuchte Gänge und über enge Wendeltreppen gegangen war, gelangte er zum großen Waffensaal der Ritterburg. Zahlreiche vornehm gekleidete Edelmänner und ihre Damen in erlesenen Gewändern und Kopfputz umringten Baron Fenio de Vokko, der sich angeregt unterhielt. Alles war schon für das Nachtmahl gerichtet und viele Ritter hatten bereits ihre Plätze an den langen Tafeln in dem mit prächtigen Wandteppichen geschmückten Raum eingenommen. Ungewöhnliche Jagdtrophäen prangten an den Wänden, und von der Decke hingen lange Standarten und zahllose Waffenschilde mit gekreuzten Lanzen und Speeren herab. Die Beleuchtung mit Lampen und Duftlampen stammte von dicken, strahlenförmig angeordneten Wachskerzen und von einem Kamin, der an einer Seite des Raumes brannte und so groß war, dass man einen vollständigen Hirsch darin hätte braten können.
Salietti steuerte direkt auf einen Ritter zu, der mehreren Herolden in Galauniform Anweisungen gab, und fragte ihn: »Seid Ihr der Burgvogt hier?«
»Ganz recht«, sagte dieser mit einer leichten Verbeugung, die der Herzog andeutungsweise erwiderte. »Womit kann ich Euch behilflich sein, Ritter...«
»Ich heiße Salietti de Estaglia. Seht, ich weiß, dass der Baron derzeit von seinen Pflichten als Gastgeber des Turniers eingenommen ist. Richtet ihm daher meine Bitte aus, in einer dringenden Angelegenheit, die ihn sicherlich interessieren wird, eine private Unterredung mit ihm zu führen.«
»Mein Herr, ich werde dem Baron Euer Anliegen vortragen, sobald wir zu Tisch sitzen, verlasst Euch darauf«, erwiderte der Burgvogt mit einer weiteren Verbeugung und entschwand zu einer anderen Gruppe von Herolden, die auf seine Anweisungen warteten.
Salietti war zufrieden, dass er den Köder wie geplant hatte auswerfen können, jetzt musste er nur noch abwarten, bis der Baron anbiss. Auf einmal kam ihm der Gedanke, dass Radogil de Curnillon vielleicht schon im Saal war. Der Ritter, dem er mit Grimpow auf dem Weg zur Festung begegnet war, musste längst in der Festung eingetroffen sein. Er hielt
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