Grimpow Das Geheimnis der Weisen
würden sich weigern fortzugehen, nachdem man sie aus einem Reich verstoßen hatte, das nicht ihres war.
»Jetzt verstehe ich: Die Fabelwesen und Ungeheuer sind die Wasserspeier. Es sind bloß Steinfiguren, die das Böse darstellen und deshalb draußen bleiben müssen«, dämmerte es Salietti.
»Worauf warten wir dann noch? Lasst uns den Teufel suchen, der sich hineingemogelt hat, und nachsehen, was wir zu seinen Füßen finden. Ich hoffe nur, dass dieser Satan genauso harmlos ist wie die Ungeheuer dort droben«, sagte Grimpow. Er war zufrieden, dass sie so schnell einen Schritt weitergekommen waren.
Vor den Toren der Kathedrale drängten sich Horden bettelnder Blinder und Krüppel, während unter den Seitenportalen ein paar Gaukler mit Feuerbällen jonglierten. Grimpow streifte sie mit einem Blick und empfand Mitleid, denn sie erinnerten ihn an längst zurückliegende Zeiten.
Die Stille in der Kathedrale war genauso dicht, wie das durch die Glasfenster einfallende Licht bunt war. Das Hauptportal lag im Westen, und die Sonne traf um die Mittagsstunde bereits die große Fassadenrosette, die wie ein riesiger Schmelztiegel erglühte. Die Kirchenfenster schienen eine Menge Geschichten zu erzählen, deren tiefere Bedeutung aber nur jene zu kennen schienen, die sie gemalt hatten. So barg die Kathedrale offenbar unzählige Geheimnisse, die nie jemand lüften würde. Die bunten Glasbilder lasen sich vordergründig, auch von Analphabeten, wie ein offenes Buch, aber gleichzeitig verschwiegen sie ihre verborgenen Botschaften, die sie demjenigen vorbehielten, der den richtigen Schlüssel besaß.
Aber Grimpow war zuversichtlich und sah sich, von der unermesslichen Schönheit geblendet, nach allen Seiten um. Er wusste, dass jede Statue und jedes Gemälde von künstlerischer Genialität als höchstem Ausdruck menschlicher Schöpfungskraft durchdrungen war. So jedenfalls hatte er das Kryptogramm des Unsichtbaren Weges mit dem lateinischen Zauberwort ARS in der Mitte unter der Sternkarte verstanden. Er staunte aber ebenso über die unsichtbare Kunst der Geometrie und Mathematik um ihn herum, die ihm Rinaldo von Metz in der Abtei Brinkum nahegebracht hatte. An diesem Ort sprang sie ihm förmlich ins Auge, als überbordende Kunstfertigkeit und Weisheit in jeder der von den Glasfenstern beschienenen Wände, in den mächtigen Säulen und all den spitzbogigen Kuppeln, die wie schwerelos über ihm in der Luft schwebten.
Vor einer Seitenkapelle, in der Dutzende von Altarkerzen und Lichter brannten, schreckte Weynelle Grimpow aus seinen Gedanken, indem sie ihn sachte am Arm berührte. Salietti war damit beschäftigt, die frommen Besucher im großen Mittelschiff und in den zahllosen Seitenkapellen zu beobachten, Edelleute oder Gemeine, Händler, Bürger, Pilger, Mönche und Geistliche, deren Mienen und Bewegungen, die ihm verdächtig erschienen, er aufmerksam verfolgte.
»Kommt, ich glaube, ich weiß, wo der Teufel zu finden ist. Wenn ich als kleines Mädchen mit meiner Mutter hierherkam, habe ich mich immer an ihm vorbeigedrückt, vor lauter Angst, er könnte mir die Seele rauben, wenn ich ihm in die Augen gucke. Das wagt nämlich niemand. Vielleicht verlangt Aidor Bilbicum genau das in seinem Manuskript, dass wir diese Angst überwinden.«
Sie schritten den Chorumgang und den Altarraum ab, wo Salietti unter der harmlos aussehenden Statue eines Mannes mit einem Buch in der Hand mehrere Wörter entdeckte. Aufgefallen waren sie ihm durch ihre Anordnung und ihren scheinbar fehlenden Zusammenhang.
Er gab Grimpow ein Zeichen und fragte: »Kannst du mit diesen Wörtern irgendetwas anfangen?«
Grimpow dachte einen Augenblick nach und versuchte, die Begriffe miteinander zu verknüpfen, was ihm nicht gelang. »Nein, ich weiß weder, was sie verbindet, noch, was sie bedeuten könnten. Diese Kathedrale enthält weit mehr Geheimnisse als wir je lösen können, so viel steht fest.«
»Ich komme auch nicht darauf, was es damit auf sich haben könnte«, erklärte Weynelle.
»Vielleicht sind es die letzten Worte von Aidor Bilbicums Handschrift«, mutmaßte Salietti.
Weynelle schüttelte den Kopf. »Darin steht etwas vom Teufel, diese Figur hier stellt ihn aber nicht dar.«
»Nach der Kirchenlehre kann der Teufel tausenderlei Gestalt annehmen, um die Unachtsamen zu versuchen. Vielleicht dürfen wir Aidor Bilbicums Text nicht so wörtlich nehmen, wie wir es bisher getan haben«, verteidigte Salietti seine Vermutung.
»Bisher haben wir mit
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