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Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Titel: Grimpow Das Geheimnis der Weisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Abalos
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schwachen Schein einer Öllampe das runzlige, bekümmerte Gesicht eines alten Mönchs sah, den er nicht kannte.
    »Los, los, steh auf!«, verlangte der Mann leise.
    »Was ist denn?«, fragte Grimpow verschlafen und noch mit halb geschlossenen Augen.
    »Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Du musst so schnell wie möglich fort von hier«, antwortete der Mönch und drängte ihn zum Aufstehen.
    »Wo ist Durlib?«, hakte der Junge nach, als er feststellte, dass der Strohsack neben dem seinen leer war.
    »Um den kümmern wir uns später, wir müssen jetzt los.«
    Der alte Mönch blies die Öllampe in seiner Hand aus, packte mit der anderen Grimpow am Arm und steuerte im Dunkeln geschickt auf die Treppe zu, die in den Innenhof mit der Kirche führte. Erschrocken und so dicht hinter ihm, als wäre er sein Schatten, folgte der Junge ihm aufs Geratewohl, ohne etwas zu sagen. Sie ließen den Zugang zur Kirche links liegen und huschten quer über den Hof. Dort stieß der Mönch, der seinen Begleiter wie einen Blinden leitete, mit der Schulter eine Tür auf und dirigierte ihn durch einen Gang, den der Junge sich lang und unheimlich vorstellte, weil er gar kein Ende nehmen wollte.
    In der undurchdringlichen Finsternis konnte Grimpow lediglich das Geräusch seiner Schritte auf den Steinplatten sowie ein fernes Plätschern wie von einem unterirdischen Rinnsal hören, in das sich das schrille Pfeifen der Ratten mischte. Als er mit dem Arm die raue Wand streifte, schloss er daraus, dass sie eine enge Wendeltreppe hinabstiegen. Schließlich blieben sie auf einem Absatz stehen, und der alte Mönch zündete die Öllampe wieder an, wobei seine knochigen, rauen Hände leicht zitterten. Nun erblickte Grimpow zu seinem Entsetzen unzählige aufeinandergetürmte Totenschädel, die ihn aus ihren leeren Augenhöhlen in ihren rechts und links in die Felswände gehauenen Nischen anzustarren schienen.
    »Erschrick nicht«, sagte der Mönch, »diese Schädel gehören Toten, denen es nichts mehr ausmacht, wenn jemand wie du vorbeikommt und ihre ewige Ruhe stört.«
    Ungerührt vom Entsetzen des Jungen ging der Mönch einige Schritte weiter und bewegte einen der Totenköpfe, als wollte er ihm den nicht vorhandenen Hals umdrehen. Vor Grimpows angstgeweiteten und überraschten Augen schob sich ein Teil der Wand geräuschvoll zur Seite, bis die Öffnung so breit war, dass problemlos ein Mensch hindurchpasste. Grimpow dachte im ersten Moment, er stehe vor dem Tor zur Hölle, und erinnerte sich daran, was Durlib im Wald in den Bergen über den Fluch des toten Edelmannes zu ihm gesagt hatte.
    »Wo bringt Ihr mich hin? Warum sagt Ihr mir nicht, wo mein Freund ist?«, fragte er und wagte nicht, auch nur einen einzigen Muskel seines Körpers zu bewegen.
    »Ich bringe dich nur an einen sicheren Ort«, erhielt er zur Antwort. »Jetzt komm, oben erkläre ich dir alles.«
    Dabei sah der alte Mönch ihn mit seinen wimpernlosen Augen so gütig an, dass Grimpows Befürchtungen allesamt wie weggeblasen waren. So aus der Nähe schätzte der Junge den Mann auf über achtzig, auch wenn er mit der Frische eines Novizen sprach und sich rasch bewegte. Nur das leichte Zittern seiner Hände und sein gebräuntes Gesicht voller Furchen, die zum Teil so tief waren wie der Abgrund, in den sie gerade gestiegen waren, deuteten darauf hin, dass er nicht mehr der starke, kampferprobte Mann von einst war.
    Grimpow beschloss, dem Mönch zu folgen, um baldmöglichst herauszufinden, was passiert war und warum er sich in diesem Loch verstecken musste, das so entlegen und unzugänglich war wie ein Grab. Ohne nach rechts oder links zu blicken, passierte er den Gang mit den Totenschädeln und betrat eine kleine Höhle. Von dort führte eine Wendeltreppe nach oben, eng und gewunden wie im Turm einer Kirche oder einer Burg.
    Grimpow stieg hinter dem Mönch die Stufen hinauf. Sie gelangten in einen rechteckigen Raum, dessen Wände allesamt mit Regalen voller Handschriften und Pergamentrollen bedeckt waren. Es gab weder Türen noch Fenster, nur die Luke zu dem schwarzen Treppenschacht, über den sie hergelangt waren. Ein muffiger Geruch mischte sich mit dem angenehmen Duft nach getrockneten Blumen, dessen Ursprung Grimpow nicht ausmachen konnte.
    »Wo sind wir hier?«, fragte der Junge, während er die unzähligen Bücher um sie herum bestaunte. Er hatte das Gefühl, er könne sie alle lesen, ohne sie aufschlagen zu müssen, oder ihm sei bereits jedes einzelne Wort bekannt, das auf den

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