Grimpow Das Geheimnis der Weisen
vielen Seiten stand.
»In einem Geheimkabinett der Bibliothek.«
Der Mönch stellte die Öllampe auf den Holztisch in der Mitte des ungewöhnlichen Raumes, griff nach einem losen Stück Docht und hielt es in die Flamme. Damit zündete er mehrere Lampen an, die an Ketten von der Decke hingen, sodass der Raum bald in warmes Licht getaucht war. Dann löschte er das Dochtende, indem er Daumen und Zeigefinger über der Flamme zusammendrückte. Dabei fiel Grimpow auf, dass der alte Mönch rabenschwarze Fingerkuppen hatte, und er fragte sich, woher das wohl kam.
»Das Feuer ist der einzige unbarmherzige Feind, der dir in diesen vier Wänden begegnen kann. Wenn du allein bist, musst du beim Anzünden und Löschen der Lampen sehr vorsichtig sein«, schärfte der alte Mann Grimpow ein und ließ sich ermattet auf den Hocker am Schreibtisch in einer Ecke des Raumes sinken.
Grimpow setzte sich dem Mönch gegenüber. »Soll ich hier eingesperrt werden?«, fragte er, von der tristen Einsamkeit einer Gefangenschaft bedrückt, die der alte Mönch ihm in Aussicht stellte, noch ohne dass er den Grund dafür erfahren hatte.
»Hier bist du besser aufgehoben als in einem Kerker voller Ratten und Kellerasseln. Ich kenne keinen bequemeren Ort, um dich vor den Bluthunden in Sicherheit zu bringen, die heute Nacht in der Abtei eingetroffen sind«, antwortete der Mönch.
»Und Durlib? Was ist mit ihm geschehen?«, fragte der Junge verängstigt.
Der alte Mönch senkte den Kopf, und Grimpow schloss aus seiner zerknirschten Miene, dass die Antwort nicht gerade erfreulich ausfallen würde.
»Das weiß ich nicht genau, aber es kann gut sein, dass dein Freund zu dieser Stunde bereits in einem der erwähnten Kerker steckt, damit Burumar de Gostelle ihn verhören kann.«
Bei diesen Worten verspürte Grimpow einen so heftigen Schmerz, als hätte man ihm den Dolch des toten Edelmannes, den er im Hosenbund verborgen trug, in die Eingeweide gestoßen. Seit er den Leichnam im Schnee entdeckt hatte, ahnte er, dass etwas Schlimmes bevorstand, nun begriff er endlich den Grund für seine Unruhe.
»Was, glaubt Ihr, kann Durlib geschehen?«, forschte er nach, besorgt um das Schicksal seines lieben Freundes.
»Das weiß nur Gott allein.«
»Wer seid Ihr, und warum denkt Ihr, dass der Inquisitor von Lyon und die Soldaten des französischen Königs sich für einen Strauchdieb wie Durlib und einen Jungen wie mich interessieren könnten?«, fragte Grimpow neugierig.
Der alte Mönch schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Grimpow vermutete, dass er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters an Atembeschwerden litt.
»Mein Name ist Rinaldo von Metz. Ich wurde am zehnten September 1228 geboren und bin seit über vier Jahrzehnten Bibliothekar in dieser Abtei. Wenn du magst, kannst du mich Bruder Rinaldo nennen«, erklärte der Mönch voller Stolz auf seinen Namen und seine Abstammung.
Grimpow wusste nicht, wie er es ausgerechnet hatte, aber ihm war sofort klar, dass sein Gegenüber bereits fünfundachtzig Lebensjahre vollendet hatte. Instinktiv griff er unter sein Wams und tastete nach dem Dolch. Damit kann ich mir den Bibliothekar vom Leibe halten, falls er mir etwas zuleide tun will, sagte er sich. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm der abwegige Gedanke durch den Kopf, Bruder Rinaldo könne verrückt sein, auch wenn er auf den ersten Blick nicht so wirkte.
»Ihr habt mir noch nicht gesagt, was die Inquisition von uns wollen kann«, hakte Grimpow nach, als der Mönch schwieg.
»Auskunft über einen Tempelritter, dem Burumar de Gostelle seit Lyon auf den Fersen ist und der offenbar gestern hier in der Gegend vor seinen Verfolgern in die Berge geflohen ist. Der Dominikanermönch und seine Begleiter haben das Pferd des Flüchtigen am Eingang des Tals aufgefunden. Es hatte an den Beinen Bisswunden von irgendeinem wilden Tier, einem Wolf, einem Luchs oder einem Bären, wer weiß. Unter dem Sattel war eines der sonderbaren Zeichen des Templerordens eingebrannt.«
Es war das erste Mal, dass Grimpow von einem Tempelritter und dem Templerorden hörte, auch wenn er zugleich den Eindruck hatte, diese Geschichte bereits gut zu kennen, wenn auch unbewusst.
»Ein Tempelritter, sagt Ihr?«, fragte er.
»Ganz recht. Du bist zu jung, um von ihnen gehört zu haben, aber es ist noch nicht allzu lange her, da waren die Heldentaten der Ritter vom Tempel Salomons in allen christlichen Reichen bekannt.«
»Weder Durlib noch ich weiß etwas von diesem
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