Grimpow Das Geheimnis der Weisen
irgendetwas muss er hier gewollt haben. Warum ist er sonst mit dem päpstlichen Schreiben hier aufgetaucht?«
»Möglicherweise befindet es sich gar nicht hier, sondern in der Kirche«, mutmaßte Grimpow.
»Du hast recht, mein Junge. Wir wollen uns dort umsehen«, erwiderte Salietti. Bevor er das Buch zuklappte, in dem er gerade blätterte, entdeckte er, dass zwischen den Seiten die Spitze eines kleinen Stückes Pergament hervorlugte. »Was ist denn das?«, fragte er und betrachtete die Zeilen, die in tadelloser Schönschrift auf dem Blatt standen:
Gehe ins Tal der Sonne, und dir tut sich der Sarkophag ohne Leichnam auf,in dem die Geschichte ruht. Mach dich auf in die Stadt des Briefes und frage nach dem, der nicht mehr ist, so vernimmst du die Stimme der Schatten.
»Da ist von einem Sarkophag die Rede. Der muss in der Krypta dieser Kirche stehen«, sagte Grimpow. »Und die Stadt des Briefes könnte Straßburg sein. Vielleicht hat Gandalf Labox dieses Pergament gesucht.«
»Vielleicht hat er aber auch jemanden erwartet und ihm diese Nachricht hinterlassen, weil er fürchtete, ihm könnte etwas zustoßen«, überlegte Salietti.
»Wenn es so wäre, wie du sagst, waren diese Worte vielleicht an den toten Edelmann gerichtet. In dem Brief, den er bei sich getragen hat, ist schließlich von Straßburg die Rede.«
»Wer könnte der sein, der nicht mehr ist?«, fragte Salietti. Er dachte an Aidor Bilbicum, dessen Name ebenfalls in dem versiegelten Brief des Edelmannes auftauchte.
»Lass uns die Krypta suchen. Wenn wir uns in jenes rätselhafte Tal der Sonne begeben, erfahren wir vermutlich weit mehr von der Geschichte, die noch in einem Grab zu ruhen scheint. Dann reisen wir nach Straßburg, der Stadt des Briefes. Dort fragen wir nach jemandem, der nicht mehr ist, und vernehmen vielleicht die Stimme der Schatten. Alles passt zusammen«, erklärte Grimpow.
Als sie aus der Sakristei in das Seitenschiff der Kirche traten, drohten die Wogen der Verwirrung über ihnen zusammenzuschlagen, wie bei einem Schiff, das bei Sturm im aufgewühlten Meer zu versinken droht. Alles um sie herum war ebenso still wie dunkel, und als sie den Kandelaber an die Bilder von Jungfrauen und Heiligen hielten, die stumm und bleich wie Wachs in ihren Wandnischen standen, spürten sie deren eisige Blicke, als wären es Gespenster.
Wortlos liefen sie weiter und begutachteten jede Bodenfliese, jeden Winkel und jeden Hohlraum. Sie untersuchten die Grabstätten einiger Adliger neben dem Altar, die Weihwasserbecken, die Taufkapelle, die Kanzeln. Doch sie fanden nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregte, bis sie hinter dem Hochaltar eine schmale Treppe entdeckten, die in die Krypta hinunterführte.
»Dort liegen bestimmt die Priester der Kirche begraben«, sagte Salietti und runzelte die Stirn. Ihm war nicht wohl dabei, um diese Nachtzeit zu den Grabstätten hinabzusteigen.
Auch Grimpow behagte es nicht besonders, einen so unheimlichen Ort lediglich mit dem Licht des Kandelabers zu betreten. Doch seit er die vor dem geheimen Zugang zur Klosterbibliothek in Brinkum aufgetürmten Totenköpfe gesehen hatte, konnte ihn nur noch wenig erschrecken.
»Krypten waren schon immer gute Orte, um Geheimnisse zu verstecken, also lass uns hinuntergehen«, erklärte der Knappe wenig begeistert.
Salietti hielt den Kandelaber an die schmale Treppe zur Krypta. Sein schwaches Licht erhellte das Gewölbe und die Stufen, die spiralförmig in den finsteren Schacht hinabführten.
»Ich gehe voraus«, verkündete der Ritter und zog den Kopf ein, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen.
Als sie in der Krypta angelangt waren, flackerten die Flammen der Kerzen, als hätte ein unsichtbares Wesen sie auszublasen versucht, und ihre Schatten zitterten an den feuchten Felswänden.
Auch dort war die Gewölbedecke recht niedrig, doch zumindest konnten sie aufrecht stehen. Vor ihnen tat sich ein finsterer Gang auf, der nach rechts führte, als folgte er einer Kreislinie. Grimpow nahm an, dass die Krypta unter der Apsis der Kirche lag.
Zu ihrer Rechten taten sich mehrere Bögen auf, die alle auf Säulen ruhten. Dahinter entdeckten sie einige Marmorsarkophage, die strahlenförmig und somit im rechten Winkel zur Kreislinie standen, die der Gang beschrieb. Salietti richtete das Licht des Kandelabers auf die einzelnen Grabstätten. Auf jeder ruhte die Statue eines Mannes in einer prächtigen Tunika. Alle hatten langes Haar, einen Bart und die Arme über der Brust gekreuzt, als
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