Grippe
das kleine Zimmer wie ein gigantischer Motor vibrieren. Jetzt bemerkte er, dass es nichts mehr mit den Stimmen von vorhin zu tun hatte. Es war etwas Anderes ...
Karen erschien in der Tür. Ihre Haare waren zerzaust, das Gesicht fleckig. Sie redete mit ihm, brüllte ihn an, doch er hörte sie nicht durch das monotone Brummen. Dann rannte sie wieder hinaus. Die Tür schwang in der schieren Aufregung des Augenblicks zurück. Pat lief ihr nach in die Wohnküche. Dort stand sie an der Scheibe, ihrem Fenster zur Welt, und schaute hinab auf alles, was ihr verwehrt war. Die Jalousien hatte sie aufgezogen, und als sie ihn sah, fing sie an, mit dem Finger herumzufuchteln. Ihre Lippen bewegten sich, doch was sie sagte, verklang im Lärm, der alles zum Beben brachte. Ein Stummfilm schien sich vor Pats Augen abzuspielen. Ihm war, als träume er noch immer.
Als er ihrem Blick folgte, sah er die Ursache für das Getöse: Ein Hubschrauber hing direkt vor ihrem Apartment in der Luft. Der Pilot starrte sie an. Es war eine grüne Militärmaschine, die Pat sofort als RAF Wessex erkannte, den Standardhelikopter der Armee für Transporte nach Nordirland beziehungsweise außer Landes. Pat verzagte bei diesem Anblick. Eiskalter Schweiß lief ihm über den Rücken, schreckte ihn auf – wie der Stromschlag, den sie ihm damals vor so vielen Jahren versetzt hatten. Unvermittelt wallte Zorn in ihm auf, und er nahm seine Tasche hinterm Sofa hervor.
»Geh vom Fenster weg«, herrschte er Karen an, doch seine Stimme blieb genauso unhörbar wie ihre. Sie sah ihn fassungslos an. »Sofort!«, betonte er, aber sie verstand nicht. Er zog den Reißverschluss auf und entnahm das AR-18. Schnell hatte er das Stangenmagazin aufgesteckt. Dreißig Patronen.
Jetzt war es wieder Karen, die gegen den ohrenbetäubenden Rotor des Hubschraubers anzuschreien suchte. Sie stürzte sich auf Pat und packte seine Handgelenke, wollte ihm vehement das Gewehr entreißen. Dabei biss sie ihm in den Arm, dass es schmerzte und er an ein Raubtier dachte, so spitz kamen ihm ihre Zähne vor. Dabei benahm sie sich fast wie die Toten. Er rang mit ihr und versuchte, sie abzuschütteln, wobei ihn ihre Kraft überraschte. Ihre Entschlossenheit. Nun da sie direkt vor dem offenen Fenster standen, ratterte die Maschine noch lauter. Karen hing weiter an Pats Arm; sie weinte dicke Tränen, aber er durfte sich nicht von ihr abhalten lassen; sie würde ihren Willen nicht durchsetzen.
Mit einer Hand riss er das Gewehr los, während er Karen mit der anderen würgte, um sie vom Fenster wegzudrücken. Schnell hielt er die Waffe beidhändig fest und rammte ihr den Kolben ins Gesicht. Sie knallte unsanft auf den Boden, da hatte er das Gewehr bereits umgedreht, um auf den Hubschrauber zu feuern. Wie in Zeitlupe ging der Kugelhagel auf ihn hernieder. Die Militärs wendeten sogleich und wichen aus; mehrere Treffer durchsiebten den Panzer beim Rückzug.
Dann war er fort. Während die frische Luft das Rattern immer leiser herantrug, vernahm Pat das unermüdliche Weinen des Mädchens am Boden. Sie schaute zu ihm auf. Ihr Gesicht war klamm und blutverschmiert. Das Schluchzen sprach von Zorn, war bewusst an ihn gerichtet. Sie schien ihn wie eine waidwunde Wölfin anzuheulen.
Manchmal, dachte Pat, muss man schreckliche Dinge tun, um Gutes zu erwirken. Ein kleines Übel zum Wohle aller. An diesem Sinnspruch hatte er sich während seiner Zeit bei der IRA strikt gehalten. Selbst während des Verhörs. Selbst als sie seine Frau entführten, seinen Sohn. Selbst als die Politiker, von denen er gedacht hatte, sie würden ihn vertreten, sich an ihrem sogenannten Friedensprozess bereicherten und aus höchster Höhe auf all seine Bemühungen pissten. Genau die Leute, denen er im verbissenen Kampf gegen den Imperialismus und die Korruption der britischen Regierung vertraut hatte. Indem er zu ihrem Schutze eingetreten war, hatte er viele Opfer bringen müssen. Pat betrachtete es nicht als Frieden – keinen wirklichen, jedenfalls nicht von ihrer Warte aus. Sie hatten ihre Integrität für ein Zahlungspaket verraten, für mehr Macht und falsche Verantwortung. Er und seinesgleichen waren dadurch zum Gespött geworden, seine Eltern, sein Sohn … und auch alle anderen Menschen, denen durch seine Hand Furchtbares zugestoßen war. Alles nur im Namen der gemeinsamen Sache.
Routinemäßig und ohne nachzudenken zog Pat das Magazin vom Gewehr. Nachdem er alles zurück in die Tasche gesteckt hatte, wie um es zu verbergen,
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