Grippe
Baby verkroch, ohne anzupacken, kämpften andere erbittert ums Überleben. Diese Leute wären auch für sie durchs Feuer gegangen, hätten sich ohne jeden Groll für Karen geopfert. Nun musste sie sich die Frage stellen, ob es ohne sie anders gelaufen wäre. Hätten jene Leute überlebt, die Toten und das Virus abwenden können? War sie selbst diejenige, die die anderen mit Elend überzogen hatte? War sie eine Plage, die alles und jeden verseuchte wie die Grippe selbst?
Unvermittelter Lärm schreckte Karen aus ihren abgründigen Gedanken auf.
» Hast du das gehört?«, fragte sie Pat im Flüsterton.
Er nickte stumm und zeigte durch die geöffnete Wohnzimmertür in den Flur, ehe er sich den Finger auf die Lippen legte, damit sie ja den Mund hielt. Sie verließen den Raum. Die Badezimmertür am anderen Ende des Flurs glomm ihnen entgegen. Während sie sich heranschlichen, traten sie so leise wie möglich auf. Die Tür war fest verschlossen, doch ein plötzliches Klopfen ließ die beiden zusammenzucken. Es war das gleiche Geräusch, das sie schon im Wohnzimmer vernommen hatten.
»Okay«, flüsterte Pat. »Schätze, einer von denen steckt dort drin fest.«
»Wir sollten nachsehen«, schlug Karen vor, »denn was ich von draußen gehört habe, klang eher nach einem Menschen. Du hast es doch auch bemerkt.«
Pat nickte, als ein erneutes Pochen seine Einschätzung bestätigte. Es klang dumpf, weder sonderlich laut noch dringlich und zeugte nicht von Verzweiflung, wie Karen es von einem eingesperrten Lebenden erwartet hätte. Pat zeigte mit der Pistole auf den Türgriff und ging im sicheren Abstand in Position. Dann winkte er Karen, aus dem Weg zu gehen.
Mit zwei Schüssen blies er das Schloss in Stücke, und der Griff fiel auf den Teppich.
Im gleichen Moment ging die Tür auf. Hervor trat eine tote Frau, bluttriefend und mit anderen Körpersäften beschmutzt. Sie begaffte die beiden angriffslustig. Plötzlich machte sie einen Ausfallschritt auf Pat zu, der erneut zweimal feuerte und ihren Kopf damit genauso durchlöcherte wie eben noch die Tür. Der Leichnam sackte zu Boden und zuckte noch ein paar Sekunden, ehe er vollkommen still blieb.
»War das die Frau auf dem Foto?«, fragte Karen. Sie merkte jetzt erst, wie ihr Herz raste.
»Gut möglich«, erwiderte Pat.
»Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Geräusche, die ich hörte, doch von … einem von denen kamen.« Sie blickte ununterbrochen auf die Tote.
»Also gut«, entgegnete Pat, indem er sich von dem Körper abwandte. »Schauen wir noch kurz in –«
Er hielt inne. Stocksteif blieb er stehen und starrte gebannt auf etwas, das er weiter unten im Flur sah. Er war vollends verstummt, und als Karen seinem Blick folgte, erkannte sie den Grund: In der Dunkelheit am gegenüberliegenden Ende des Flurs stand jemand. Unbewusst hob sie die Taschenlampe an. Sie sah ein kleines Mädchen von höchstens sechs oder sieben Jahren, das ihrem Blick trotzte. Die schokoladenbraunen, weit aufgerissenen Äuglein sahen hungrig aus. Nase und Lippen waren angeschwollen; getrocknetes Blut hatte eine Kruste gebildet.
Pat schaute sie an, wusste aber offenbar nicht, was er tun sollte. Plötzlich fing das Kind zu weinen an, normal wie jeder kleine Mensch, und Karen erkannte, dass sie genau dieses Geräusch vor der Wohnung gehört hatte.
» Mein Gott«, keuchte Pat und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Sie lebt. Sie lebt wirklich.«
22
Sie fuhr aus dem Schlaf hoch.
Im Traum war sie den beiden Polizisten begegnet. Norman sah schwach aus und schien um ungefähr das Doppelte gealtert zu sein. Er lief beschwerlich durch die Straßen von Belfast, als würde er vor den Toten fliehen, doch dem war nicht so. Er rannte vor lebenden Menschen davon, vor George, Lark, McFall und ihr . Sie jagten ihn und fauchten dabei wie wilde Bestien beim Aufnehmen einer Fährte. Sie alle hatten Schaum vorm Mund, als seien sie besessen.
Licht fiel durch die Vorhänge, aber es war wohl noch relativ früh. Als sie die Daunendecke aufklappte, stellte sie fest, dass sie immer noch Jeans und T-Shirt trug. Da sie sich nicht mehr daran erinnerte, wie sie ins Bett gelangt war, musste sie todmüde gewesen sein. Nachdem sie in ihre Turnschuhe geschlüpft war, verließ sie leise das Zimmer und schlich nach unten. Sie hörte ein Geräusch aus der Küche, ihr blieb fast das Herz stehen, und sie hielt inne. Vorsichtig pirschte sie sich an, um nachzusehen, wer dort zugange war.
Sie sah einen Mann auf der
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