Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
ja kaum noch zu Gesicht.«
»Ich dachte, du wärst gern unterwegs.«
»Ich wünschte, du hättest mich mal gebeten zu bleiben.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wollte erwidern, dass er mir Unrecht tat, dass ich das nicht hatte ahnen können. Aber stimmte das? Vielleicht hatte ich tatsächlich geglaubt, dass Maljen weit fort vom Kleinen Palast glücklicher war. Oder hatte ich mir das nur eingeredet, weil es so eine Person weniger gab, die mich beobachtete und Forderungen an mich stellte?
»Verzeih mir«, sagte ich heiser.
Er hob die Hände, als wollte er sich erklären, ließ sie dann aber hilflos sinken. »Ich habe das Gefühl, dass du mir entgleitest, und weiß nicht, wie ich das verhindern kann.«
Tränen brannten in meinen Augen. »Wir finden eine Lösung«, sagte ich. »Wir schaufeln mehr Zeit frei …«
»Das ist nicht alles. Seit du den zweiten Kräftemehrer trägst, hast du dich verändert.« Meine Hand glitt zum Armband. »Du hast die Kuppel gespalten und du sprichst ständig vom Feuervogel … Und ich habe gehört, wie du gestern mit Zoja geredet hast. Sie hat sich gefürchtet, Alina. Und du hast es genossen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte ich mit wachsendem Zorn, einem viel besseren Gefühl als Scham oder Schuld. »Na und? Du kennst weder ihren wahren Charakter, noch weißt du, was ich hier die ganze Zeit erdulden muss. Die Angst, die Verantwortung …«
»Doch, das weiß ich. Ich weiß es. Und ich merke, was es dich kostet. Aber du hast dich bewusst dafür entschieden. Dein Leben hat einen Sinn. Was mich betrifft, so weiß ich nicht mehr, was ich hier soll.«
»Sag das nicht.« Ich schwang die Beine vom Bett und stand auf. »Wir haben ein Ziel. Wir sind wegen Rawka hier. Wir sind …«
»Nein, Alina. Du bist wegen Rawka hier. Wegen des Feuervogels und weil du die Zweite Armee führen willst.« Er tippte auf die Strahlensonne über seinem Herzen. »Ich bin deinetwegen hier. Du bist meine Flagge. Du bist meine Nation. Aber das ist offenbar nicht mehr wichtig. Begreifst du denn nicht, dass wir in diesem Moment zum ersten Mal seit zig Wochen allein miteinander sind?«
Maljens Worte senkten sich über uns. Im Gemach war es plötzlich unnatürlich still. Er trat zögernd auf mich zu. Dann überbrückte er den Abstand zwischen uns mit zwei langen Schritten, ließ eine Hand um meine Taille gleiten, legte mir die andere auf eine Wange und beugte sich ganz langsam zu mir hinab, um mich zu küssen.
»Kehr zu mir zurück«, sagte er leise. Er zog mich zu sich heran, aber als unsere Lippen sich berührten, erblickte ich plötzlich eine Gestalt.
Der Dunkle stand hinter Maljen. Ich erstarrte.
Maljen trat von mir zurück. »Was ist?«, fragte er.
»Nichts. Ich bin nur …« Weiter kam ich nicht, denn es hatte mir die Sprache verschlagen.
Der Dunkle stand immer noch da. »Sag ihm, dass du mich siehst, wenn er dich umarmt«, sagte er.
Ich kniff die Augen zu.
Maljen ließ die Hände fallen und wich zurück. Er ballte die Fäuste. »Das sagt wohl alles.«
»Maljen …«
»Warum hast du mich nicht unterbrochen? Ich habe mich nur zum Narren gemacht. Wenn du nichts mehr von mir wissen willst, dann hättest du das einfach sagen sollen.«
»Sei nicht traurig, Fährtensucher«, sagte der Dunkle. »Jeder macht sich mal zum Narren.«
»Du irrst dich …«, setzte ich an.
»Ist es Nikolaj?«
»Was? Nein!«
»Noch ein Otkazat’ja , Alina?«, spottete der Dunkle.
Maljen schüttelte angewidert den Kopf. »Ich habe zugelassen, dass er mich verdrängt. Die Treffen, die Ratssitzungen, die Festessen. Ich habe nicht verhindert, dass er an meine Stelle tritt, sondern in der Hoffnung abgewartet, dass du alle zum Teufel jagst, weil du mich so sehr vermisst.«
Ich schluckte und versuchte meinen Blick von dem kalten Lächeln des Dunklen zu lösen.
»Maljen, der Dunkle …«
»Ich will nichts mehr vom Dunklen hören! Und auch nichts von Rawka oder Kräftemehrern.« Er ließ eine Hand durch die Luft sausen. »Ich habe die Nase voll.« Er machte auf dem Hacken kehrt und schritt zur Tür.
»Warte!« Ich rannte ihm nach und ergriff ihn beim Arm.
Er fuhr so schnell herum, dass ich beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. »Lass das, Alina.«
»Du begreifst nicht …«, sagte ich.
»Du bist zurückgezuckt . Willst du das leugnen?«
»Das lag nicht an dir!«
Maljen lachte rau auf. »Ich weiß, dass du wenig Erfahrung hast. Aber ich habe genug Frauen geküsst, um zu wissen, was das bedeutet. Keine
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