Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Kampf verwickelt. Ich konnte über die Menge hinweg sehen, wie einer der mit Seide bespannten Wagen zusammenbrach. Irgendjemand rannte auf uns zu und stieß gegen die zwei Adeligen. Die Kaffeekanne flog vom Tisch, gefolgt von den blauen Tassen.
»Weg hier«, sagte Maljen und griff nach der Pistole. »Wir verschwinden durch die Hintertür.«
Tamar ging mit gezückten Äxten voran und ich folgte ihr die Treppe hinunter. Wir hatten die Terrasse gerade hinter uns gelassen, da hörte ich noch einen lauten Krach und den Schrei einer Frau, die unter dem Banketttisch eingeklemmt war.
Maljen steckte die Pistole ein. »Bring sie zur Kutsche«, rief er Tamar zu. »Ich bin gleich da.«
»Maljen …«
»Geht! Ich komme nach.« Er bahnte sich durch die Menge einen Weg zu der eingeklemmten Frau.
Tamar zog mich die Gartentreppe hinab. Wir folgten einem Pfad, der an der Villa vorbei zur Straße führte. Ohne die Laternen war es dunkel und ich erhellte den Weg mit einem matten Lichtschein.
»Nicht«, sagte Tamar. »Das ist zu riskant. Du könntest uns verraten.«
Ich ließ das Licht erlöschen. Eine Sekunde später hörte ich ein Schlurfen, dann ein lautes Uuuh! und danach – Stille.
»Tamar?«
Ich drehte mich um und lauschte auf Maljens Schritte.
Mein Herz begann zu rasen. Ich hob die Hände, denn ich wollte nicht im Dunkeln stehen, auch wenn ich so unseren Standort verriet. Da hörte ich das Knarren einer Pforte. Ich wurde von kräftigen Händen gepackt und durch die Hecke gerissen.
Hell und heiß ließ ich mein Licht aufflammen. Ich befand mich auf einem gepflasterten Hof, der auf allen Seiten von einer dichten Eibenhecke umgeben war.
Ich konnte ihn riechen, bevor ich ihn sah – aufgewühlte Erde, Weihrauch, Moder. Der Geruch eines Grabes. Ich hob meine Hände, als der Asket aus den Schatten trat. Der Priester hatte sich seit unserer letzten Begegnung nicht verändert – derselbe struppige schwarze Bart, derselbe unbarmherzige Blick. Er trug immer noch die braune priesterliche Kutte, aber der Doppeladler auf seiner Brust war durch eine mit Goldfäden gestickte Strahlensonne ersetzt worden.
»Bleib, wo du bist«, warnte ich ihn.
Er verneigte sich tief. »Alina Starkowa, Sol Korolewa. Ich will dir nichts Böses.«
»Wo ist Tamar? Wenn sie verletzt ist …«
»Deinen Wachen wird nichts geschehen. Ich bitte dich nur, mir zuzuhören.«
»Was willst du? Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Die Gläubigen sind allgegenwärtig, Sol Korolewa.«
»Hör auf, mich so zu nennen!«
»Deine heilige Armee schwillt durch die Verheißung deines Lichts täglich weiter an. Sie wartet nur darauf, dass du sie führst.«
»Meine Armee? Ich habe Pilger gesehen, die vor den Stadtmauern kampieren – arm, schwach, hungrig. Sie warten verzweifelt auf die Hoffnungshäppchen, mit denen du sie fütterst.«
»Es gibt andere. Soldaten.«
»Noch mehr Leute, die mich für eine Heilige halten, nachdem du ihnen eine Lüge verkauft hast?«
»Nein, keine Lüge, Alina Starkowa. Du bist die Tochter Keramzins, wiedergeboren auf der Schattenflur.«
»Ich bin nicht gestorben!«, sagte ich wutentbrannt. »Ich habe überlebt, weil ich dem Dunklen entkommen bin, und ich habe dafür ein ganzes Skiff voller Grischa und Soldaten geopfert. Erzählst du das deinen Anhängern?«
»Dein Volk leidet. Nur du kannst ein neues Zeitalter einläuten, ein Zeitalter, das geweiht ist durch das heilige Feuer.«
Seine Augen loderten. Sie waren so tiefschwarz, dass ich die Pupillen nicht mehr erkennen konnte. War sein Wahnsinn echt oder Teil eines genau geplanten Auftritts?
»Und wer wird in diesem neuen Zeitalter herrschen?«
»Natürlich du. Sol Korolewa, Sankta Alina.«
»Mit dir an meiner Seite? Ich habe das Buch gelesen, das du mir geschenkt hast. Heilige haben meist nicht lange zu leben.«
»Begleite mich, Alina Starkowa.«
»Ich begleite dich nirgendwohin.«
»Du hast noch nicht die Kraft, um gegen den Dunklen anzutreten. Ich kann das ändern.«
Ich verstummte. »Was weißt du?«, fragte ich dann.
»Begleite mich und alles wird dir enthüllt werden.«
Ich ging auf ihn zu, überrascht von der Gier und der Wut, die in mir aufbrandeten. »Wo ist der Feuervogel?« Ich erwartete, dass ihn dies überraschen oder dass er Unwissenheit heucheln würde. Stattdessen lächelte er breit und zeigte dabei sein schwarzes Zahnfleisch und die schiefen Zähne. »Heraus mit der Sprache, Priester«, befahl ich, »oder ich zerteile dich an Ort und Stelle.
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