Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Deine Anhänger können dich dann durch ihre Gebete wieder zusammenleimen.« Mir wurde schlagartig bewusst, dass es mir ernst damit war.
Zum ersten Mal wirkte er nervös. Gut . Hatte er etwa eine handzahme Heilige erwartet?
Er hob beschwichtigend die Hände.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Das schwöre ich. Doch als der Dunkle den Kleinen Palast verlassen hat, ahnte er nicht, dass er nie mehr dorthin zurückkehren würde. Er hat vieles Wertvolle zurückgelassen – Dinge, die nach allgemeiner Meinung vor langer Zeit vernichtet worden sind.«
Ich wurde von einer weiteren Welle der Gier erfasst. »Die Aufzeichnungen von Morozow? Sie sind in deinem Besitz?«
»Begleite mich, Alina Starkowa. Du kannst tief vergrabene Geheimnisse bergen.«
Ob er tatsächlich die Wahrheit sagte? Oder wollte er mich nur an den Dunklen ausliefern?
»Alina!«, erschallte Maljens Stimme hinter der Hecke.
»Hier bin ich!«, rief ich.
Maljen sprang mit gezogener Pistole auf den Hof. Tamar folgte ihm auf den Fersen. Sie hatte nur noch eine Axt und ihr Gewand war auf der Brust mit Blut beschmiert.
Der Asket wirbelte so rasch herum, dass seine Kutte einen Moderhauch entließ, und verschwand durch die Hecke.
»Halt!«, rief ich und wollte ihm folgen. Tamar rannte mit einem Brüllen an mir vorbei und nahm die Verfolgung auf.
»Ich will ihn lebendig!«, rief ich ihr nach.
»Alles in Ordnung?«, keuchte Maljen, als er endlich neben mir stand.
Ich ergriff einen seiner Ärmel. »Ich glaube, er hat Morozows Aufzeichnungen, Maljen.«
»Bist du verletzt?«
»Mit einem alten Priester komme ich klar«, antwortete ich ungeduldig. »Hast du mir zugehört?«
Er wich zurück. »Ja, ich habe dir zugehört. Ich dachte, du wärst in Gefahr.«
»Nein. Ich …«
Da kehrte Tamar mit frustrierter Miene zu uns zurück. »Unbegreiflich«, sagte sie kopfschüttelnd. »Im einen Moment war er noch da, und im nächsten verschwunden.«
»Bei allen Heiligen«, fluchte ich.
Sie ließ den Kopf hängen. »Vergib mir.«
So zerknirscht hatte ich sie noch nie erlebt. »Schon gut«, sagte ich, während ich fieberhaft nachdachte. Ich wäre gern in die Gasse gerannt, um den Asketen aufzufordern, sich zu zeigen, ihn durch die Straßen der Stadt zu jagen, bis ich ihn fand und seinem Lügenmaul die Wahrheit entringen konnte. Ich ließ meinen Blick über die Hecke gleiten. Aus der Villa war weiterhin Gebrüll zu hören und die Glocken des Klosters begannen irgendwo in der Dunkelheit zu läuten. Ich seufzte. »Lasst uns verschwinden.«
Unser Kutscher wartete in der schmalen Seitenstraße auf uns. Während der Rückfahrt zum Palast herrschte dicke Luft.
»Dieser Streit bei der Feier war kein Zufall«, sagte Maljen.
»Nein«, stimmte Tamar zu und tupfte den tiefen Schnitt auf ihrem Kinn ab. »Er wusste, dass wir dort waren.«
»Aber woher?«, fragte Maljen. »Niemand außer uns wusste davon. Hast du es Nikolaj erzählt?«
»Nikolaj hatte mit dieser Sache nichts zu tun«, sagte ich.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Weil er nichts zu gewinnen hätte.« Ich drückte die Finger auf meine Schläfen. »Vielleicht hat jemand gesehen, wie wir den Palast verlassen haben.«
»Wie konnte der Asket Os Alta ungesehen betreten? Und wie hat er Wind von dieser Feier bekommen?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich müde. »Die Gläubigen seien allgegenwärtig, hat er gesagt. Vielleicht sind wir von einem Diener belauscht worden.«
»Wir hatten großes Glück«, sagte Tamar. »Das hätte viel schlimmer ausgehen können.«
»Ich war keine Sekunde in echter Gefahr«, beharrte ich. »Er wollte nur reden.«
»Und was hat er gesagt?«
Ich fasste es in aller Kürze für sie zusammen, verschwieg jedoch Morozows Aufzeichnungen. Außer Maljen braucht niemand davon zu erfahren, und Tamar wusste schon jetzt zu viel über die Kräftemehrer.
»Er stellte eine Art Armee auf«, schloss ich. »Aus Leuten, die glauben, ich wäre von den Toten auferstanden und würde eine heilige Macht besitzen.«
»Wie groß ist diese Armee?«, fragte Maljen.
»Ich weiß es nicht. Und ich weiß genauso wenig, was er damit vorhat. Will er sie gegen den Zaren in Marsch setzen? Gegen die Horden des Dunklen kämpfen? Ich bin schon für die Grischa verantwortlich. Ich will mir nicht auch noch eine Armee aus hilflosen Otkazat’ja aufladen.«
»Wir sind nicht alle so hilflos«, erwiderte Maljen mit einem scharfen Unterton.
»Ich wollte nicht … Ich meinte nur, dass er diese Menschen benutzt. Er
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