Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
missbraucht ihre Hoffnung.«
»Nikolaj hat dich in einem Ort nach dem anderen zur Schau gestellt. Ist das anders?«
»Nikolaj macht den Menschen nicht weis, ich wäre unsterblich oder könnte Wunder wirken.«
»Nein«, sagte Maljen. »Er sorgt dafür, dass sie das von ganz allein glauben.«
»Warum musst du ihn immer angreifen?«
»Warum musst du ihn immer verteidigen?«
Ich wandte mich müde und genervt ab, konnte nicht über das Chaos in meinem Kopf hinausdenken. Die von Laternen erhellten Straßen der Oberstadt glitten vor dem Kutschenfenster vorbei. Die restliche Fahrt über schwiegen wir.
Nach der Rückkehr in den Kleinen Palast zog ich mich um. Maljen und Tamar erzählten währenddessen Tolja, was sich zugetragen hatte.
Ich saß auf dem Bett, als Maljen anklopfte. Er schloss die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und sah sich um.
»Dieses Zimmer ist unglaublich bedrückend. Ich dachte, du wolltest es neu einrichten lassen.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte genug Sorgen, und ich hatte mich schon fast an die stille Trübsal dieses Gemachs gewöhnt.
»Glaubst du wirklich, dass die Aufzeichnungen in seinem Besitz sind?«, fragte Maljen.
»Es hat mich überrascht, dass er überhaupt davon wusste.«
Er ging zum Bett und ich zog die Beine an, um Platz zu machen.
»Tamar hatte Recht«, sagte er und ließ sich vor meinen Füßen nieder. »Es hätte viel schlimmer ausgehen können.«
Ich seufzte. »Dann ist wohl Schluss mit lustig.«
»Ich hätte es gar nicht erst vorschlagen sollen.«
»Ich hätte nicht mitkommen dürfen.«
Er nickte und zog eine Stiefelspitze über den Fußboden. »Ich vermisse dich«, sagte er leise.
Nur drei Wörter, aber sie lösten ein schmerzhaft schönes Beben in mir aus. Hatte ich je daran gezweifelt? Er war so oft fort gewesen.
Ich berührte seine Hand. »Ich vermisse dich auch.«
»Du könntest mich morgen zu den Schießübungen begleiten«, sagte er. »Unten am See.«
»Das geht nicht. Nikolaj empfängt eine Gesandtschaft von Bankiers der Kerch. Sie wollen die Sonnenkriegerin sehen, bevor sie der Krone ein Darlehen zusichern.«
»Sag ihm, du wärst krank.«
»Grischa werden nicht krank.«
»Dann sag ihm, du hättest zu viel um die Ohren.«
»Unmöglich.«
»Andere Grischa nehmen sich Zeit, um …«
»Ich bin nicht wie andere Grischa«, sagte ich barscher als beabsichtigt.
»Ja, ich weiß«, sagte er müde und atmete tief aus. »Oh, bei allen Heiligen! Wie ich diesen Ort hasse.«
Ich blinzelte, überrascht von dem Nachdruck, der in seinen Worten lag. »Wirklich?«
»Ich hasse diese Feiern. Ich hasse diese Leute. Ich hasse das alles hier.«
»Ich glaubte … du warst so … vielleicht nicht unbedingt glücklich, aber …«
»Dir muss doch längst aufgefallen sein, dass ich hier fehl am Platz bin, Alina.«
Das bezweifelte ich. Maljen fügte sich überall ein. »Nikolaj erzählt, dass dich alle vergöttern.«
»Sie finden mich unterhaltsam«, sagte Maljen. »Das ist nicht das Gleiche.« Er drehte meine Hand um und strich über die Narbe auf meiner Handfläche. »Um ehrlich zu sein, vermisse ich es, auf der Flucht zu sein. Ich vermisse sogar die lausige kleine Herberge in Kofton und die Arbeit im Speicherhaus. Da hatte ich wenigstens das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und nicht nur Zeit zu vergeuden und Gerüchte durchzukauen.«
Ich verlagerte unbehaglich mein Gewicht und hatte plötzlich das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. »Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, von hier zu verschwinden, ergreifst du sie immer beim Schopf. Warum nimmst du jede Einladung an?«
Er starrte mich an. »Ich halte mich von dir fern, um dich zu beschützen, Alina.«
»Wovor?«, fragte ich ungläubig.
Er stand auf und lief rastlos im Gemach auf und ab. »Was hat man mich wohl auf der großen Jagd gefragt? Wie lautete die allererste Frage? Sie galt uns beiden.« Er drehte sich zu mir um und sagte mit gemeinem, höhnischem Unterton: »Stimmt es, dass du es mit der Sonnenkriegerin treibst? Wie ist es so mit einer Heiligen? Ist sie besonders scharf auf Fährtensucher oder geht sie mit jedem Diener ins Bett?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin so oft fort, um die Gerüchte durch den Abstand zwischen uns zu ersticken. Auch jetzt dürfte ich eigentlich gar nicht hier sein.«
Ich zog die Beine mit beiden Armen gegen meine Brust. Meine Wangen brannten. »Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Was hätte ich denn sagen sollen? Und wann? Ich bekomme dich
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