Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Wahl zu haben«, sagte ich. Unfassbar, dass ich Genja entschuldigte, aber ich wollte verhindern, dass sie in Davids Achtung sank.
»Ich hätte …« Er schien nicht zu wissen, wie er diesen Satz beenden sollte.
Ich hätte ihn gern getröstet oder beruhigt, aber ich hatte in der Vergangenheit selbst so viele Fehler gemacht, dass mir keine aufrichtige Erwiderung einfiel.
»Wir geben unser Bestes«, sagte ich lahm.
David sah mich an. Das Bedauern stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wir kannten die nackte Wahrheit auch ohne Worte: Wir taten unser Bestes und wir strengten uns an, doch all das änderte rein gar nichts.
Die bedrückte Stimmung verließ mich auch beim nächsten Treffen im Großen Palast nicht. Nikolajs Plan schien aufzugehen. Wassili zwang sich zwar, weiter an den Sitzungen mit den Ministern teilzunehmen, erschien aber immer später und nickte manchmal ein. Als er einmal ganz fehlte, scheuchte Nikolaj ihn aus dem Bett und bestand fröhlich darauf, dass er sich ankleidete, weil wir ohne ihn angeblich nicht weitermachen konnten. Der verkaterte Wassili harrte schwankend am Kopfende des Tisches aus, rannte jedoch nach der Hälfte der Sitzung in den Flur, wo er sich lautstark in eine Vase erbrach.
An diesem Tag fielen sogar mir die Augen zu. Es war völlig windstill und im Ratssaal war es trotz der offenen Fenster unerträglich stickig. Die Sitzung schleppte sich dahin, bis einer der Generäle darauf hinwies, dass die Truppenstärke der Ersten Armee immer weiter abnahm. Die Ränge waren durch Tod, Desertion und die jahrelangen unbarmherzigen Kriege ausgedünnt worden, und nun, da bald eine neue Front eröffnet werden musste, sah die Lage bedrohlich aus.
Wassili winkte träge ab und sagte: »Wass soll das Heulen und Zähneklappern? Wir ziehen einfach die jüngeren Jahrgänge ein.«
Ich setzte mich gerader hin. »Bis zu welchem Alter?«, fragte ich.
»Vierzehn? Fünfzehn?«, schlug Wassili vor. »Wer ist an der Reihe?«
Ich dachte an die Dörfer, durch die ich mit Nikolaj gefahren war, an die endlosen Friedhöfe. »Warum nehmen wir nicht gleich die Zwölfjährigen?«, fauchte ich.
»Man ist nie zu jung, um dem Vaterland zu dienen«, erklärte Wassili.
Vielleicht lag es an meiner Erschöpfung, vielleicht auch an meiner Wut, auf jeden Fall sprach ich die Worte aus, bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte. »Warum dann bei den Zwölfjährigen aufhören? Wie ich höre, sind Säuglinge hervorragendes Kanonenfutter.«
Unter den Beratern des Zaren erhob sich missbilligendes Gemurmel. Nikolaj drückte unter dem Tisch warnend meine Hand.
»Jüngere Jahrgänge würden auch desertieren, Bruder«, sagte er zu Wassili.
»Dann schnappen wir ein paar Deserteure und statuieren ein Exempel an ihnen.«
Nikolaj zog eine Augenbraue hoch. »Glaubst du wirklich, der Tod durch ein Erschießungskommando wäre abschreckender als die Aussicht, von den Nitschewo’ja zerfetzt zu werden?«
»Wenn es sie überhaupt gibt«, sagte Wassili verächtlich.
Ich traute meinen Ohren nicht.
Aber Nikolaj lächelte nur freundlich. »Ich habe sie an Bord der Wolkwolnij mit eigenen Augen gesehen. Du willst mich doch sicher nicht der Lüge bezichtigen.«
»Deutest du damit etwa an, dass Fahnenflucht dem ehrlichen Dienst in der Armee des Zaren vorzuziehen wäre?«
»Ich deute an, dass diese Menschen genauso an ihrem Leben hängen wie du. Sie sind mangelhaft ausgerüstet, schlecht ernährt und ohne jede Hoffnung. Wenn du die Berichte gelesen hättest, wüsstest du, dass die Offiziere ihre Einheiten nur mit großer Mühe zusammenhalten können.«
»Dann sollte man härtere Strafmaßnahmen erwägen«, sagte Wassili. »Das ist die Sprache, die Bauern verstehen.«
Den einen Prinzen hatte ich bereits geschlagen. Da machte der zweite den Kohl wohl auch nicht mehr fett. Ich war schon halb aufgestanden, als Nikolaj mich wieder auf den Stuhl drückte.
»Sie verstehen die Sprache klarer Befehle und voller Mägen«, erwiderte er. »Wenn du den von mir vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen würdest, könnten wir die Ränge öffnen, um …«
»Warum solltest du deinen Willen immer bekommen, kleiner Bruder ?«
Spannung knisterte im Saal.
»Die Welt verändert sich«, sagte Nikolaj und der harte Ton schlich sich in seine Stimme ein. »Entweder wir verändern uns auch oder nur der Staub wird sich an uns erinnern.«
Wassili lachte. »Ich weiß nicht, ob du ein Angsthase oder ein Feigling bist.«
»Und ich weiß nicht, ob du ein Idiot oder ein
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