Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Brunnen, der nur mit Echos auf einen Ruf antwortete.
Einige Grischa schritten den Graben am Seeufer ab und riefen herüber, welche Ausmaße er hatte. Der Graben war einen halben Meter tief und ebenso breit, eine Furche aus verkohlter Erde. Der Wald war ein Chaos aus gekappten Baumwipfeln, Ästen und Rindenstückchen. Ich strich über die Schnittstelle eines Stammes. Sie war glatt und das Holz fühlte sich immer noch warm an. An zwei Stellen waren kleinere Brände ausgebrochen, die von den Flutern rasch gelöscht wurden.
Nikolaj ließ Essen und Champagner bringen und wir verbrachten den restlichen Abend am Ufer. Die Generäle und Ratgeber zogen sich bald zurück, aber der Hauptmann blieb mit einigen Gardisten. Sie zogen Jacken und Stiefel aus und wateten in den See. Bald darauf sprangen alle, ohne auf ihre Kleider zu achten, ins Wasser, bespritzten sich gegenseitig, tauchten einander unter und veranstalteten Wettschwimmen zur kleinen Insel. Niemand war überrascht, dass ein Fluter, der sich von günstigen Wellen tragen ließ, stets der Sieger blieb.
Nikolaj erbot sich, zusammen mit seinen Stürmern ein paar Leute in seinem kürzlich fertiggestellten Boot mitzunehmen, das er auf den Namen Eisvogel getauft hatte. Anfangs zauderten die meisten, aber nach der Rückkehr der ersten Mutigen, die mit den Armen wedelten und davon sprachen, tatsächlich geflogen zu sein, wollte jeder mit. Ich hatte mir eigentlich geschworen, dass meine Füße den Erdboden nie mehr verlassen würden, gab dann aber nach.
Vielleicht lag es am Champagner oder daran, dass ich wusste, was mir bevorstand, aber die Eisvogel erschien anmutiger und leichter als die Kolibri . Ich klammerte mich zwar am Mittschiff fest, doch beim Abheben wurde ich immer euphorischer.
Ich überwand mich und warf einen Blick in die Tiefe. Das sanft gehügelte Gelände des Großen Palastes dehnte sich unter uns aus, kreuz und quer durchschnitten von Kieswegen. Ich sah die Dächer der Gewächshäuer der Grischa, das makellose Rund des Springbrunnens mit dem Doppeladler, die golden glitzernden Palasttore. Dann segelten wir über die Villen und die langen, schnurgeraden Prachtstraßen der Oberstadt. Die Straßen wimmelten von Menschen, die den Beljanotsch feierten. Auf dem Gerskij-Boulevard erblickte ich Jongleure und Akrobaten auf Stelzen, in einem der Parks Tänzer, die sich auf einer Bühne drehten. Von den Booten auf dem Kanal stieg Musik zu uns auf.
Ich wäre am liebsten für immer in der Luft geblieben, von Winden umspielt, unter mir die winzige, heile Welt. Aber Nikolaj warf das Ruder herum, ging langsam nieder und wasserte auf dem See.
Das Dämmerlicht nahm einen üppigen lila Schimmer an. Die Inferni entfachten Freudenfeuer am Seeufer und irgendjemand spielte in der Dunkelheit Balalaika. Aus der Stadt drang das Heulen und Knallen eines Feuerwerks an meine Ohren.
Nikolaj und ich saßen mit hochgekrempelter Hose auf der Spitze des provisorischen Anlegers und ließen die Beine baumeln. Die Eisvogel schwankte mit gerefften weißen Segeln neben uns auf dem See.
Nikolaj ließ mit einem Fuß Wasser aufspritzen. »Diese Schüsseln verändern alles«, sagte er. »Wenn du die Nitschewo’ja eine Weile aufhalten kannst, haben wir genug Zeit, um den Dunklen ausfindig zu machen und aufs Korn zu nehmen.«
Ich ließ mich auf den Anleger sinken und verlor mich im tiefen Violett des Nachthimmels. Als ich den Kopf zur Seite drehte, erblickte ich die evakuierte, dunkle Schule. Ich hätte den Schülern gern vorgeführt, was die Spiegelschüsseln vermochten, und ihnen so ein wenig Hoffnung eingeflößt. Die bevorstehende Schlacht machte mir immer noch Angst, vor allem, wenn ich an die vielen Menschen dachte, die fallen würden. Aber wir würden jetzt immerhin nicht mehr auf einem Hügel sitzend den Tod erwarten.
»Ja, vielleicht haben wir wirklich eine Chance«, sagte ich und war selbst überrascht.
»Lass dich nicht von deiner Begeisterung davontragen – aber ich habe weitere gute Nachrichten.«
Ich stöhnte. Sein Tonfall verriet mir, was er sagen wollte. »Behalt es für dich.«
»Wassili ist aus Karjewa zurückgekehrt.«
»Wärst du so nett, mich zu ertränken?«
»Um ganz allein zu leiden? Auf keinen Fall.«
»Vielleicht kannst du dir zum Geburtstag wünschen, dass man ihm einen prinzlichen Maulkorb verpasst«, schlug ich vor.
»Dann würden wir seine aufregenden Geschichten über die Sommerauktion verpassen. Die überlegene Zucht der Rennpferde aus Rawka fasziniert
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