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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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um eine weitere. Sie beugte sich über ihre Arbeit.
    Ich spürte die Hitze, die die Schuppen abgaben, während sie sich voneinander lösten und wieder miteinander verbunden wurden. Sie verschmolzen zu einem Armband, das sich immer weiter um mein Handgelenk schloss. Die Fabrikatorin arbeitete schweigend, ihre Finger bewegten sich unendlich behutsam. Tolja und Tamar hielten weiter die Laternen, und ihre Gesichter waren so ernst und still wie die von Heiligen auf Ikonen. Sogar Sturmhond war verstummt.
    Schließlich war das Armband fast geschlossen. Eine letzte Schuppe fehlte. Sie lag golden schimmernd auf Maljens Handfläche und er starrte sie an.
    »Maljen?«, bat ich.
    Ohne mich anzuschauen, berührte er mit einem Finger die noch freie Stelle auf meinem Handgelenk. Dort schlug mein Puls, dort würde sich der Armreif schließen wie die Schelle einer Fessel. Dann gab er der Fabrikatorin die letzte Schuppe.
    Sekunden später war es vollbracht.
    Sturmhond musterte das schimmernde Schuppenarmband. »Hui«, murmelte er. »Ich dachte, das Ende der Welt wäre viel dramatischer.«
    »Zurücktreten«, sagte ich.
    Die Gruppe wich langsam gegen die Reling zurück.
    »Du auch«, sagte ich zu Maljen, der zögernd gehorchte. Ich sah, wie der am Steuer stehende Priwjet mich beäugte. Über ihm knarrte die Takelage, als die wachhabenden Matrosen den Hals reckten, um mich besser in den Blick zu bekommen.
    Ich holte tief Luft. Ich musste vorsichtig sein. Keine Hitze. Nur Licht. Ich wischte die feuchten Hände am Mantel ab und breitete die Arme aus. Ich hatte das Licht noch gar nicht ganz aufgerufen, da schoss es schon auf mich zu.
    Es kam aus allen Richtungen, von einer Million Sterne, von einer Sonne, die sich hinter dem Horizont verbarg. Rasant und mit wilder Entschlossenheit schoss es auf mich zu.
    »Oh, ihr Heiligen«, konnte ich noch hauchen. Dann durchflutete mich das Licht und zerriss die Nacht. Der Himmel erstrahlte in Gold. Die Meeresoberfläche glitzerte wie ein einziger Diamant und reflektierte das Sonnenlicht als Vielzahl weißer Splitter. Entgegen meiner Absicht flirrte die Luft vor Hitze.
    Ich schloss die Augen zum Schutz vor dem grellen Licht und versuchte mich zu konzentrieren, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Ich hatte im Ohr, wie Baghra mich mit rauer Stimme aufforderte, meiner Macht zu vertrauen. Es ist kein Tier, das vor dir zurückscheut oder sich jedes Mal überlegt, ob es kommen will, wenn du es rufst. Trotzdem war dies ein vollkommen neues Gefühl. Es war ein Tier, ein Geschöpf, das nur aus Feuer bestand und nicht nur die Kraft des Hirsches, sondern auch den Zorn der Meeresgeißel atmete. Es durchbrandete mich, raubte mir den Atem, löste mich auf, bis es nur noch das Licht für mich gab.
    Es ist übermächtig , dachte ich verzweifelt. Und trotzdem verlangte ich insgeheim nach mehr.
    Rufe drangen wie aus weiter Ferne zu mir hindurch. Ich spürte, wie Hitze mich umwallte, meinen Mantel anhob, die Haare auf meinen Armen versengte. Es war mir egal.
    »Alina!«
    Ich spürte, wie das Schiff auf dem zischenden, brodelnden Meer zu schwanken begann.
    »Alina!« Maljen packte mich mit beiden Armen und zog mich zurück. Er hielt mich mit eisernem Griff, die Augen zum Schutz vor dem gleißenden Licht geschlossen. Ich roch das Salz der See und seinen vertrauten Duft: nach Keramzin und nach Wiesengräsern, nach dem dunkelgrünen Herzen des Waldes.
    Ich erinnerte mich wieder an meine Arme, meine Beine, den Druck auf meinen Rippen, während er mich immer fester an sich presste und ich mich dadurch wieder zusammensetzte. Ich spürte meine Lippen, meine Zähne, meine Zunge, mein Herz und auch all das Neue, das jetzt ein Teil von mir war: Halsreif und Schuppenarmband. Sie waren Knochen und Atem, Muskeln und Fleisch. Sie waren mein.
    Spürt der Vogel das Gewicht seiner Schwingen?
    Ich holte Luft, kam wieder zur Besinnung. Ich musste die Macht nicht mehr aufrufen. Stattdessen ließ sie mich nicht mehr los, als wäre sie froh, zu Hause zu sein. Mit einem einzigen, gewaltigen Blitz entließ ich das Licht. Am Himmel zerstob die Helligkeit, die Nacht hielt wieder Einzug und ringsumher regnete es Funken wie nach einem Feuerwerk, wie Blütenblätter, die der Wind von Tausenden von Blumen gerissen hatte.
    Die Hitze ließ nach. Das Meer kam zur Ruhe. Ich sammelte die letzten Lichtfetzen ein und verwob sie zu einem milden Schimmer, der an Deck des Schoners pulsierte.
    »Maljen«, sagte ich leise. Er hielt mich noch fester und ich

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