Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
sie starb«, erklärte Tamar, »musste unser Vater ihr schwören, dass uns die Zweite Armee nicht bekommen würde. Am Tag nach ihrem Tod brachen wir in Richtung Nowij Sem auf.«
Fast alle abgefallenen Grischa landeten in Nowij Sem. Dies war, von Rawka abgesehen, der einzige Ort, wo sie vor den Experimenten der Shu-Ärzte und vor den Hexenjägern der Fjerdan in Sicherheit waren, die jeden Grischa auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Trotzdem durften sie ihre Macht auch dort nicht zu offen zeigen. Grischa waren begehrte Sklaven und wurden immer wieder von gewissenlosen Händlern der Kerch gefangen und auf geheimen Auktionen verkauft.
Andererseits hatten genau diese Bedrohungen viele Grischa veranlasst, in Rawka Schutz zu suchen und in die Zweite Armee einzutreten. Aber die unabhängigen Grischa dachten anders. In ihren Augen war es besser, immer auf der Hut sein zu müssen und von einem Ort zum anderen zu fliehen, als lebenslang dem Dunklen und dem Zaren von Rawka zu dienen. Ich konnte diese Haltung nachvollziehen.
Nach einigen ereignislosen Tagen an Bord des Schoners baten Maljen und ich Tamar, uns ein paar Kampftechniken der Semeni beizubringen. Das vertrieb die Langeweile und dämpfte die Furcht vor der bevorstehenden Rückkehr nach West-Rawka.
Sturmhonds Besatzung hatte die beunruhigenden Gerüchte bestätigt, die wir in Nowij Sem aufgeschnappt hatten. Kaum jemand durchquerte noch die Schattenflur und die Menschen flohen vor ihren sich ausbreitenden Rändern. Die Erste Armee stand kurz vor einer Revolte, in der Zweiten Armee herrschte Chaos. Für mich war besonders beängstigend, dass der von dem Asketen geschürte Kult der Sonnenheiligen immer weiter um sich griff. Niemand wusste, wie er nach dem gescheiterten Putsch des Dunklen aus dem Großen Palast hatte entkommen können, aber er war in einem jener Klöster wiederaufgetaucht, die sich wie ein Netz über ganz Rawka spannten.
Er behauptete, ich hätte auf der Schattenflur mein Leben verloren und wäre als Heilige von den Toten auferstanden. Einerseits brachte mich das zum Lachen, andererseits blieb mir das Lachen im Hals stecken, wenn ich spätabends in den Istorii Sankt’ja blätterte. Ich erinnerte mich an den Geruch des Asketen, eine widerwärtige Mischung von Weihrauch und Schimmel, und schlang den Mantel enger um mich. Er hatte mir das rote Büchlein geschenkt. Noch immer fragte ich mich, zu welchem Zweck.
Die Lehrstunden bei Tamar sorgten dafür, dass ich meine bohrenden Sorgen trotz aller Schrammen und blauen Flecke vorübergehend vergaß. Junge Frauen und Männer wurden mit Erreichen des wehrfähigen Alters in die Armee des Zaren eingezogen, ich hatte also viele Frauen im Kampf erlebt und auch mit ihnen trainiert. Aber nie hatte jemand, ob Frau oder Mann, so gekämpft wie Tamar. Sie hatte die Anmut einer Tänzerin und ein unfehlbares Gespür für den nächsten Schlag ihres Gegners. Ihre Lieblingswaffe war die Doppelaxt; sie führte meist zwei zugleich, und wenn sie dies tat, funkelten die Klingen wie die Sonne auf der See. Mit Säbel, Pistole oder bloßen Händen war sie jedoch fast genauso gefährlich. Tolja war der Einzige, der es mit ihr aufnehmen konnte, und wenn sie gemeinsam trainierten, schaute die ganze Besatzung zu.
Der Riese war wortkarg, arbeitete meist an den Tauen oder stand einfach nur da und sah einschüchternd aus. Manchmal nahm er an unseren Übungen teil, aber er war kein guter Lehrer. »Musst schneller sein« war so ziemlich der einzige Satz, den wir ihm entlocken konnten. Tamar war da begabter, aber nachdem Sturmhond uns auf dem Vordeck ertappt hatte, sank der Schwierigkeitsgrad der Übungen.
»Tamar«, schimpfte Sturmhond, »du darfst unsere Fracht nicht beschädigen.«
Tamar stand sofort stramm und erwiderte kurz und knapp: »Da, Kapitan.«
Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich bin kein Paket, das du auslieferst, Sturmhond.«
»Leider nicht«, sagte er im Vorbeischlendern. »Pakete reden nicht, und sie rühren sich auch nicht vom Fleck.«
Doch als Tamar mich in Säbel und Rapier einführte, machte sogar Sturmhond mit. Maljen wurde täglich besser. Er wurde von Sturmhond zwar immer noch mit links besiegt, aber das schien ihn nicht zu stören. Wenn er wieder einmal etwas hatte einstecken müssen, nahm er dies mit einem Humor, der mir neu war. Wenn ich besiegt worden war, war ich gereizt; Maljen lachte nur.
»Wie habt ihr gelernt, eure Macht anzuwenden?«, wollte ich eines Nachmittags von Tamar wissen, während
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