Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
über die langen Schwanzfedern, die in Weiß und jenem matten Goldton koloriert worden waren, der auch den Heiligenschein Sankt Iljas leuchten ließ. »Unmöglich«, sagte er.
»Der Hirsch hat sich als Wirklichkeit erwiesen. Und die Meeresgeißel ebenfalls.«
»Aber in diesem Fall ist es … anders.«
Er hatte Recht. Denn der Feuervogel war nicht nur Thema eines Märchens, sondern tauchte in tausend Geschichten auf. Er war das Herzstück der Mythologie Rawkas und hatte unzählige Theaterstücke und Balladen, Romane und Opern inspiriert. Die Grenzen Rawkas, so wurde erzählt, waren von ihm im Flug gezogen worden. Das Wasser der Flüsse bestand aus seinen Tränen. Die Hauptstadt war dort erbaut worden, wo eine Feder des Feuervogels auf die Erde gesegelt war. Ein junger Krieger hatte die Feder aufgelesen und war mit ihr in die Schlacht gezogen. Kein Heer hatte gegen ihn bestehen können und er war zum ersten Zaren von Rawka gekrönt worden. So jedenfalls ging die Legende.
Der Feuervogel war Rawka. Er war nicht dafür bestimmt, durch den Pfeil eines Fährtensuchers zu sterben, und seine Gebeine waren nicht dafür gedacht, von einer ehrgeizigen Waise getragen zu werden, die nur ihren Ruhm mehren wollte.
»Sankt Ilja«, sagte Maljen.
»Ilja Morozow.«
»Ein Grischa-Heiliger?«
Ich tippte auf die Illustration, erst auf den eisernen Halsreif, dann auf die Schellen an Morozows Handgelenken. »Drei Kräftemehrer. Drei Geschöpfe. Und wir haben zwei.«
Maljen schüttelte heftig den Kopf, wohl auch, um gegen die Trunkenheit anzugehen. Er klappte das Buch mit einem Knall zu. Ich befürchtete schon, dass er es ins Meer werfen würde, aber er gab es mir zurück.
»Und was sagt uns das?«, fragte er beinahe wütend.
Ich hatte den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht, den ganzen Abend und während des nicht enden wollenden Essens. Immer wieder hatte ich die Schuppen der Meeresgeißel betastet, wie um sicherzugehen, dass sie tatsächlich existierten.
»Zu Sturmhonds Besatzung zählen auch Fabrikatoren, Maljen. Er sagt, ich solle die Schuppen benutzen … und vielleicht hat er Recht.«
Maljen riss den Kopf zu mir herum. »Wie bitte?«
Ich schluckte nervös, dann schoss es aus mir hervor: »Die Macht des Hirsches reicht nicht aus. Jedenfalls nicht, um gegen den Dunklen zu bestehen. Und auch nicht, um die Schattenflur zu vernichten.«
»Du glaubst, ein zweiter Kräftemehrer wäre die Lösung?«
»Zunächst einmal.«
»Zunächst einmal?« Er raufte sich die Haare. »Bei den Gebeinen der Heiligen«, fluchte er. »Du willst alle drei besitzen. Du willst den Feuervogel aufspüren.«
Ich kam mir auf einmal dumm, gierig und sogar etwas lächerlich vor. »Die Illustration …«
»Ist nur eine Zeichnung, Alina«, flüsterte er aufgebracht. »Die Zeichnung eines verstorbenen Mönchs.«
»Und wenn doch mehr dahintersteckt? Der Dunkle sagte, dass Morozows Kräftemehrer zwar sehr unterschiedlich sind, aber gemeinsam benutzt werden sollen.«
»Hörst du jetzt auf Mörder?«
»Nein, aber …«
»Hast du noch mehr Pläne mit dem Dunklen geschmiedet, während ihr euch zusammen unter Deck verkrochen habt?«
»Wir haben uns nicht verkrochen«, erwiderte ich scharf. »Er wollte dich nur quälen.«
»Und das mit Erfolg.« Er packte die Reling so fest, dass seine Knöchel erbleichten. »Eines Tages jage ich diesem Bastard einen Pfeil durch den Hals.«
Ich hörte das Echo der Stimme des Dunklen. Du und ich, wir sind einzigartig, Alina . Ich verdrängte diesen Gedanken und legte Maljen eine Hand auf den Arm. »Du hast den Hirsch und die Meeresgeißel aufgespürt. Vielleicht ist es dir auch bestimmt, den Feuervogel zu finden.«
Er lachte wehmütig auf und ich war froh, dass er nicht mehr verbittert klang. »Ich bin ein guter Fährtensucher, Alina, aber so gut bin ich nun auch wieder nicht. Wo sollten wir denn anfangen? Dieser Feuervogel könnte überall auf der Welt sein.«
»Du kannst es schaffen. Das weiß ich genau.«
Schließlich seufzte er und griff nach meiner Hand. »Ich weiß rein gar nichts über Sankt Ilja.«
Das war nicht weiter verwunderlich, denn es gab Hunderte von Heiligen. Jedes kleine Dorf und jeder entlegene Weiler in Rawka besaß einen, und in Keramzin hatte man den Glauben als Eigenart der Unterschicht abgetan. Wir waren höchstens zwei Mal im Jahr in die Kirche gegangen. Ich musste an den Asketen denken. Er hatte mir die Istorii Sankt’ja geschenkt, aber ich wusste erstens nicht, was er damit bezweckt
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