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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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hatte serviert. Wir hatten seit Wochen nichts Köstlicheres mehr gegessen: frisches Brot, gebratener Schellfisch, eingelegter Rettich, dazu ein süßer, gekühlter Wein, der schon nach wenigen Schlucken meinen Kopf schwirren ließ.
    Ich hatte Heißhunger, wie immer, wenn ich meine Macht benutzt hatte, aber Maljen aß kaum etwas und war sehr wortkarg, bis Sturmhond die Waffenladung erwähnte, die er nach Rawka beförderte. Da horchte er auf und erzählte während des ganzen restlichen Essens von Gewehren, Granaten und aufregenden Methoden, Dinge zum Explodieren zu bringen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Während die beiden über die Repetiergewehre fachsimpelten, die in der Grenzmark von Semeni benutzt wurden, dachte ich an Rusaljes Schuppen in meiner Tasche und fragte mich, was ich damit anfangen sollte.
    Konnte ich es wirklich wagen, einen zweiten Kräftemehrer für mich zu beanspruchen? Ich hatte der Meeresgeißel das Leben genommen, was bedeutete, dass ihre Macht auf mich übergegangen war. Wenn ihre Schuppen ähnlich beschaffen waren wie Morozows Halsreif, konnte ich die Macht auf jemand anderen übertragen. Ich konnte die Schuppen einem von Sturmhonds Entherzern schenken, zum Beispiel Tolja, und danach versuchen, ihn zu beherrschen, so wie der Dunkle mich beherrscht hatte. Ich konnte den Freibeuter zwingen, uns nach Nowij Sem zurückzubringen. Aber ich merkte, dass das nicht mein Wunsch war.
    Ich trank noch einen Schluck Wein. Ich musste mit Maljen reden.
    Zur Ablenkung machte ich eine Bestandsaufnahme der Einrichtung von Sturmhonds Kajüte. Hier bestand alles aus glänzendem Holz und blank poliertem Messing. Der Tisch war von Seekarten und sonderbaren Zeichnungen übersät, die die an Scharnieren hängende Schwinge eines mechanischen Vogels darzustellen schienen. Auf dem Esstisch schimmerten Porzellangeschirr und Kristallglas der Kerch. Das Etikett der Weinflaschen war in einer Sprache beschriftet, die ich nicht kannte. Alles Beutegut , dämmerte mir. Sturmhond hatte gut für sich gesorgt.
    Was den Kapitän betraf, so nutzte ich die Gelegenheit für eine erste genauere Betrachtung. Er war vier oder fünf Jahre älter als ich und hatte ein eigentümliches Gesicht: Sein Kinn war viel zu spitz; die Augen waren von einem bräunlichen Grün, die Haare von einem unergründlichen Rot; seine Nase sah aus, als wäre sie wiederholt gebrochen und schlampig gerichtet worden. Als er meinen prüfenden Blick bemerkte, hätte ich schwören können, dass er den Kopf bewusst in den Schatten drehte.
    Wir verließen Sturmhonds Kajüte erst nach Mitternacht. Ich führte Maljen an Deck und dort zu einer geschützten Stelle am Bug. Ich wusste, dass auf dem Vormast über uns Wachen saßen, aber die Gelegenheit, unter vier Augen mit Maljen zu sprechen, würde sich nicht so bald wieder ergeben.
    »Ich mag ihn«, sagte Maljen, der nach dem vielen Wein etwas wankte. »Er ist zwar eine Quasselstrippe und er würde seine eigene Großmutter verkaufen, aber er ist kein übler Kerl und er kennt sich offenbar gut mit …«
    »Kannst du bitte still sein?«, flüsterte ich. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
    Maljen starrte mich trübe an. »Kein Grund, unhöflich zu werden.«
    Ich überhörte ihn und zog das rote Büchlein aus der Tasche. »Schau mal«, sagte ich, indem ich die entsprechende Seite aufschlug und einen matten Lichtschein auf Sankt Iljas schwärmerisches Gesicht fallen ließ.
    Maljen verstummte. »Der Hirsch«, sagte er nach einer Weile. »Und Rusalje.« Ich sah ihm an, wie es ihm bei der Betrachtung des Bildes nach einer Weile dämmerte. »Bei allen Heiligen«, hauchte er. »Da ist noch ein Dritter.«

Sankt Ilja stand barfuß und im zerfetzten purpurnen Gewand am Ufer eines düsteren Meeres, die Arme ausgebreitet, die Handflächen nach oben gedreht. Er hatte die verklärte, fast selige Miene aufgesetzt, die für Heilige auf diesen Bildern typisch ist, vor allem kurz vor dem Märtyrertod. Er trug einen eisernen Halsreif, der durch Ketten mit massiven Schellen an seinen Handgelenken verbunden war. Aber die Ketten hingen gesprengt herunter.
    In den Wellen tummelte sich eine schlanke weiße Seeschlange.
    Vor Sankt Iljas Füßen lag ein weißer Hirsch, der den Betrachter aus dunklen, ruhigen Augen ansah.
    Aber nicht diesen beiden Geschöpfen galt unser Interesse. Im Hintergrund der Illustration ragte ein Gebirge auf, und dort, vor dem Hintergrund der dunklen Berge, umkreiste ein Vogel einen himmelhohen Felsbogen.
    Maljen strich

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