Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Sommersonne freuten, rannten ins Freie. Der Unterricht war trotz der Katastrophen der letzten Monate nicht eingestellt worden. Wenn der Dunkle anrückte, würde ich die Schule jedoch evakuieren lassen. Ich wollte auf keinen Fall, dass Kinder den Nitschewo’ja zum Opfer fielen.
Der Ochse spürt sein Joch, aber spürt der Vogel das Gewicht seiner Flügel?
Hatte Baghra diese Worte je zu mir gesprochen? Oder hatte ich sie nur in einem Traum gehört?
Ich stand auf und fegte den Staub von meiner Kefta. Schwer zu sagen, was mich mehr erschüttert hatte – Baghras Weigerung, mir zu helfen, oder ihre Gebrochenheit. Sie war nicht nur eine Greisin, sondern auch eine alte Frau, die jede Hoffnung verloren hatte. Und dazu hatte ich beigetragen.
Der Raum des Kriegsrats gefiel mir trotz seines Namens. Die Kartografin in mir wurde fast magnetisch von den alten, auf Pergament gezeichneten und mit zahlreichen Details geschmückten Karten angezogen: der vergoldete Leuchtturm in Os Kerwo, die Gebirgstempel der Shu, die Seejungfrauen an den Rändern des Meeres.
Ich ließ meinen Blick über die am Tisch versammelten Grischa gleiten. Manche Gesichter kannte ich, andere nicht. Jeder von ihnen konnte ein Spion des Dunklen, des Zaren oder des Asketen sein. Jeder von ihnen konnte auf die Gelegenheit lauern, mich aus dem Weg zu räumen und die Macht an sich zu reißen.
Tolja und Tamar standen für den Fall, dass es Ärger gab, in Rufweite draußen vor der Tür, aber es war vor allem Maljens Anwesenheit, die mich tröstete. Er saß in seiner groben Kleidung und mit der goldenen Strahlensonne über dem Herzen rechts neben mir. Für mich war es furchtbar, dass er in Kürze zur Jagd aufbrechen musste, aber etwas Ablenkung würde ihm sicher guttun. Maljen war immer stolz auf sein Soldatentum gewesen und das Urteil des Zaren machte ihm zu schaffen, auch wenn er dies nicht zeigte. Außerdem belastete ihn der Verdacht, dass ich etwas vor ihm verbarg, gewiss noch mehr.
Sergej saß rechts von Maljen, die Arme mürrisch vor der Brust verschränkt. Es wurmte ihn, neben einem Otkazat’ja -Leibgardisten sitzen zu müssen, und noch mehr wurmte ihn, dass ich den Platz links von mir, laut allgemeiner Meinung ein Ehrenplatz, einer Fabrikatorin vorbehalten hatte, einer jungen, mir unbekannten Suli-Frau namens Paja. Sie hatte dunkle Haare und tiefschwarze Augen und die roten Stickereien an den Aufschlägen ihrer purpurfarbenen Kefta wiesen sie als Fabrikatorin aus. Sie war Alkemi und auf Chemikalien wie Schießpulver oder Gifte spezialisiert.
David, dessen Ärmelaufschläge grau bestickt waren, saß weiter unten am Tisch. Er arbeitete mit Glas, Stahl oder Stein – festen Stoffen. David war ein Durast, und da der Dunkle ihn ausgewählt hatte, um meinen Halsreif zu formen, schien er der Beste seiner Zunft zu sein. Außerdem saßen da noch Fedjor und Zoja, Letztere in der blauen Kefta der Ätheralki und wie immer strahlend schön.
Gegenüber von Zoja saß Pawel, der dunkelhäutige Inferni, der sich gestern so zornig gegen mich ausgesprochen hatte. Er hatte schmale Gesichtszüge und lispelte leicht, weil er einen angeschlagenen Vorderzahn hatte.
Wir diskutierten zunächst über die Zahl der Grischa in den diversen Außenposten entlang der Grenzen Rawkas und über jene Grischa, die vermutlich untergetaucht waren. Zoja schlug vor, Boten auszuschicken, die die Neuigkeit meiner Rückkehr verbreiten und allen, die der Sonnenkriegerin bedingungslose Treue schworen, eine umfassende Begnadigung anbieten sollten. Wir debattierten eine geschlagene Stunde über die Formulierung des Gnadenerlasses. Da ich wusste, dass wir ihn Nikolaj vorlegen mussten, um den Segen des Zaren zu erhalten, mussten wir die Worte genau abwägen. Schließlich einigten wir uns auf »Treue zum Thron von Rawka und zur Zweiten Armee«. Das schien niemandem richtig zu gefallen, woraus ich schloss, dass die Formulierung stimmte.
Fedjor war es, der den Asketen ansprach. »Es beunruhigt mich sehr, dass er sich seiner Festnahme schon so lange entziehen kann.«
»Hat er versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen?«, wollte Pawel von mir wissen.
»Nein«, antwortete ich, doch ihm war anzusehen, dass er mir nicht ganz glaubte.
»Er wurde in Kerskij und Rjewost gesichtet«, sagte Fedjor. »Er taucht wie aus dem Nichts auf, um zu predigen, und er verschwindet, bevor er von den Soldaten des Zaren gestellt werden kann.«
»Vielleicht sollten wir ihn beseitigen«, sagte Sergej. »Er wird zu mächtig und
Weitere Kostenlose Bücher