Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Worten durchzuckte mich Furcht.
»Es war nicht so gemeint«, sagte ich lahm.
»Wenn du die Gesetze dieser Welt verletzt, hat das seinen Preis. Diese Kräftemehrer hätte es nie geben dürfen. Kein Grischa sollte eine solche Machtfülle besitzen. Du bist schon dabei, dich zu verändern. Wenn du den dritten Kräftemehrer findest und verwendest, wirst du dir Stück für Stück selbst abhandenkommen. Du bittest mich um Hilfe? Du möchtest meinen Rat hören? Vergiss den Feuervogel. Vergiss diesen wahnsinnigen Morozow.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Das werde ich nicht.«
Sie drehte sich wieder zum Feuer um. »Tu, was dir beliebt, Mädchen. Ich habe genug von diesem Leben und ich habe genug von dir.«
Was hatte ich erwartet? Dass sie mich wie eine Tochter oder eine Freundin empfangen würde? Sie hatte die Liebe ihres Sohnes verloren und ihr Augenlicht geopfert, und ich hatte sie enttäuscht. Ich hätte am liebsten stur auf ihrer Hilfe bestanden. Ich hätte ihr gern gedroht, sie umschmeichelt, sie auf Knien um Vergebung für alles angefleht, was sie verloren, jeden Fehler, den ich begangen hatte. Stattdessen erfüllte ich ihren Wunsch. Ich erhob mich und eilte davon.
Fast wäre ich auf den Stufen ausgerutscht, als ich aus der Hütte rannte, aber der Diener stand am Fuß der Treppe und verhinderte meinen Sturz.
Ich atmete dankbar die frische Luft ein und spürte, wie der Schweiß auf meiner Haut trocknete.
»Ist es wahr?«, fragte er. »Seid Ihr die Sonnenkriegerin?«
Ich sah in sein hoffnungsvolles Gesicht. Tränen brannten in meiner Kehle. Ich versuchte zu lächeln und nickte.
»Meine Mutter sagt, Ihr wärt eine Heilige.«
An welche Märchen glaubt sie noch? , dachte ich verbittert.
Bevor ich mir die Peinlichkeit erlaubte, mich an seiner Schulter auszuweinen, drängte ich mich an ihm vorbei und eilte auf dem schmalen Pfad davon.
Beim Erreichen des Seeufers schlug ich den Weg zu einem der weißen, steinernen Pavillons der Beschwörer ein. Genau genommen waren es nur Kuppeln, in deren Schutz die jungen Beschwörer ihre Gabe trainieren konnten, ohne befürchten zu müssen, das Dach einer Schule in die Luft zu jagen oder den Kleinen Palast in Brand zu setzen. Ich setzte mich in den Schatten des Pavillons und vergrub das Gesicht in den Händen, drängte die Tränen zurück und versuchte zu Atem zu kommen. Ich war mir so sicher gewesen, dass Baghra etwas über den Feuervogel wusste, so zuversichtlich, dass sie mir helfen würde. Erst jetzt, nachdem sich meine Hoffnungen in Luft aufgelöst hatten, wurde mir bewusst, wie groß sie gewesen waren.
Ich unterdrückte ein Schluchzen. Meine schlimmste Vorstellung war gewesen, dass Baghra mich auslachen, die prächtig kostümierte kleine Heilige verspotten würde. Wieso hatte ich denn nicht damit gerechnet, dass der Dunkle seiner Mutter niemals verzeihen würde?
Und was hatte ich da gerade getan? Mit welchem Recht hatte ich gedroht, ihr die letzten paar Freuden zu nehmen? Das war so charakterlos, dass mir schlecht wurde. Sicher, ich konnte es auf meine Verzweiflung schieben, aber ich schämte mich trotzdem. Und zu allem Überfluss hatte ich auch noch den Impuls, meine Drohungen wahr zu machen, sie aus ihrer Hütte in den hellen Sonnenschein zu zerren und zu zwingen, ihren mürrischen Runzelmund aufzumachen und mir zu antworten. Was war nur los mit mir?
Ich zog meine Ausgabe der Istorii Sankt’ja aus der Tasche und strich über den abgeschabten roten Ledereinband. Die Seite mit der Illustration von Sankt Ilja hatte ich so oft angeschaut, dass sie sich wie von selbst öffnete, obwohl das Büchlein seit dem Absturz der Kolibri ziemlich ramponiert war.
Ein Grischa-Heiliger? Oder nur ein gieriger Narr, der der Verlockung der Macht erlegen war? Genau genommen war ich auch nur eine machtgierige Närrin. Vergiss diesen wahnsinnigen Morozow . Ich strich mit einem Finger über den Felsbogen auf dem Bild. Vielleicht war er bedeutungslos, vielleicht eine Anspielung auf Iljas Vergangenheit oder nur ein hübscher Einfall des Künstlers und hatte mit Kräftemehrern nichts zu tun. Und wenn er doch ein Hinweis war, half uns das nicht weiter, denn wir wussten nicht, wo sich dieser Bogen befand. Nikolaj, der fast ganz Rawka bereist hatte, kannte ihn nicht. Vielleicht war der Felsbogen schon vor Jahrhunderten eingebrochen und nur noch ein Geröllhaufen.
In der Schule auf der anderen Seeseite läutete die Glocke und schreiende, lachende Grischa-Kinder, die sich auf die
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