Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Vielleicht auch zwei.«
»Dann hat seine Macht also gewisse Grenzen«, sagte Fedjor geradezu erleichtert.
»Sehr richtig.« Wenigstens eine Neuigkeit, die nicht ganz so düster war. »Er muss mit seiner Armee in Rawka eindringen, wenn er uns angreifen will. In dem Fall wären wir gewarnt, und das hieße, er wäre verwundbar. Er kann die Nitschewo’ja nicht so einfach aufrufen wie das Dunkel. Es kostet ihn viel Kraft.«
»Weil es keine Grischa-Macht ist«, sagte David. »Sondern Merzost .«
Dieses Wort bedeutete sowohl Zauberei als auch schwarze Magie. Die Grischa-Theorie baute auf der Grunderkenntnis auf, dass Materie nicht aus dem Nichts erschaffen werden konnte, aber diese Leitlinie der Kleinen Künste galt nicht für Merzost . Hierbei handelte es sich um einen Missbrauch der Schöpferkraft im Herzen der Welt.
David zupfte an einem losen Faden seiner Kefta. »Energie und Materie müssen einen Ursprung haben, und der kann nur im Dunklen selbst liegen.«
»Wie soll das funktionieren?«, fragte Zoja. »Hat jemals ein Grischa diese Art von Macht eingesetzt?«
»Die eigentliche Frage ist wohl, wie man sie bekämpft«, sagte Fedjor.
Das Gespräch wandte sich der Verteidigung des Kleinen Palastes zu. Während man die Vorzüge und Nachteile einer offenen Feldschlacht gegen den Dunklen erörterte, ließ ich David nicht aus den Augen. Nach Zojas Frage hatte er mich – vor allem jedoch den Halsreif – zum ersten Mal seit meiner Ankunft im Kleinen Palast angeschaut. Er hatte den Blick gleich wieder auf den Tisch gesenkt, und sein Unbehagen schien noch größer geworden zu sein. Ich hätte gern eine Antwort auf Zojas Frage gehört. Wusste er vielleicht etwas über Morozow? Ob ich die Nervenstärke besaß und gut genug ausgebildet war, um Krieger aus Licht aufzurufen, die gegen die Schattenarmee des Dunklen kämpfen konnten? Wäre dies die Macht, die mir die drei vereinten Kräftemehrer verleihen würden?
Ich hatte vor, mit David unter vier Augen zu sprechen, aber er verschwand gleich nach dem Ende des Treffens. Und die Papierstapel, die in meinen Gemächern auf mich warteten, verhinderten, dass ich ihn in den Werkstätten der Materialki zur Rede stellen konnte. Stundenlang brütete ich über dem Gnadenerlass für die Grischa und unterzeichnete unzählige Dokumente, die den Außenposten, die die Zweite Armee an den Grenzen Rawkas errichten wollte, Ausrüstung und Geld zusicherten. Sergej hatte sich bemüht, einigen Pflichten des Dunklen nachzukommen, aber das meiste war einfach liegengeblieben.
Die Sprache der Dokumente war unerhört verschraubt. Sogar schlichte Bitten musste ich mehrmals lesen und ich hatte erst einen Bruchteil abgearbeitet, als ich merkte, dass es höchste Zeit zum Abendessen war – meine erste Mahlzeit im Kuppelsaal. Ich hätte lieber in meinem Zimmer gegessen, aber ich musste im Kleinen Palast Präsenz zeigen. Außerdem wollte ich sicherstellen, dass man meinen Befehl befolgte und nicht mehr getrennt nach Orden saß.
Ich setzte mich an den Tisch des Dunklen. Um einige fremde Grischa kennenzulernen und zu verhindern, dass eine neue Elite entstand, hatte ich mir vorgenommen, reihum immer jemand anderen an meinen Tisch zu bitten. Die Idee war zwar gut, aber mir fehlten sowohl Maljens lockere Art als auch Nikolajs Charme. Die Gespräche waren zäh und wurden immer wieder von beklemmendem Schweigen unterbrochen.
Den anderen schien es nicht viel besser zu ergehen. Man saß bunt durcheinander, Karmesinrot neben Purpur neben Blau, doch es wurde kaum ein Wort gesprochen. Das Klappern der Bestecke hallte im Saal, dessen Kuppel noch nicht repariert worden war.
Es war, als hätte ich den Grischa befohlen, das Essen gemeinsam mit Volkra einzunehmen. Sergej und Marie wirkten zwar zufrieden, aber die neben ihnen sitzende Nadja schien sich am liebsten in der Butterschüssel verkriechen zu wollen, während die beiden miteinander turtelten. Ich freute mich für sie, war aber auch etwas neidisch.
Ich zählte im Stillen nach – vierzig, vielleicht auch fünfzig Grischa, die meisten frisch von der Schulbank. Was für eine Armee , dachte ich seufzend. Meine ruhmreiche Herrschaft nahm einen kläglichen Anfang.
Maljen hatte eingewilligt, an der Jagd teilzunehmen, und so stand ich am nächsten Morgen zeitig auf, um Abschied von ihm zu nehmen. Mir dämmerte langsam, dass wir im Kleinen Palast weniger Privatsphäre hatten als auf unserer Reise. Tolja und Tamar wichen mir kaum von der Seite, immer standen
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