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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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gehorsam zu ihr hin. Als sie sich schließlich zu mir umdrehte, schnappte ich nach Luft.
    Baghra war seit unserer letzten Begegnung um eine ganze Lebensspanne gealtert. Ihr Haar, früher schwarz, war grau und schütter geworden. Ihre scharf geschnittenen Züge verschwammen. Die strenge Linie ihres Mundes wirkte eingefallen und wie aufgeweicht.
    Aber ich erschrak nicht deshalb. Nein, ich war entsetzt, weil sie keine Augen mehr hatte. An deren Stelle gähnten zwei tiefe Löcher, in denen düstere Schatten zu wölken schienen.
    »Baghra«, stieß ich hervor und griff nach ihrer Hand, aber sie zuckte bei meiner Berührung zurück.
    »Erspar dir dein Mitleid, Mädchen.«
    »Was … was hat er dir angetan?« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
    Sie lachte wieder rau auf. »Er hat mich in die Dunkelheit verbannt.«
    Ihre Stimme klang kräftig, und hier, vor dem Feuer sitzend, wurde mir bewusst, dass sie das Einzige an Baghra war, das sich nicht verändert hatte. Sie war schlank und sehnig und so reaktionsschnell wie eine Akrobatin gewesen. Nun zitterten ihre uralten Hände und ihr einst drahtiger Körper wirkte hager und zerbrechlich.
    »Zeig es mir«, wiederholte sie und streckte eine Hand aus. Ich ließ zu, dass sie mein Gesicht betastete. Ihre knotigen Finger krabbelten wie zwei weiße Spinnen über die Tränen auf meinen Wangen, glitten teilnahmslos über mein Kinn und von dort bis zum Hals. Auf dem Reif verharrten sie.
    »Ah«, hauchte sie und betastete das raue, um meinen Hals liegende Hirschhorn. Dann sagte sie leise und fast wehmütig: »Ich hätte den Hirsch gern gesehen.«
    Ich hätte meinen Blick am liebsten von ihren schwarzen Augenhöhlen abgewandt. Stattdessen schob ich den Ärmel hoch und ergriff eine ihrer Hände. Sie wollte sie wegziehen, doch ich packte sie fester und legte ihre Finger auf das Schuppenarmband an meinem Handgelenk. Sie erstarrte.
    »Nein«, sagte sie. »Das kann nicht sein.«
    Sie strich über die Ränder der Schuppen der Meeresgeißel.
    »Rusalje«, flüsterte sie. »Was hast du getan, Mädchen?«
    Bei ihren Worten schöpfte ich wieder Hoffnung. »Du weißt von den anderen Kräftemehrern.«
    Ich zuckte zusammen, als sie ihre Finger in meinen Arm bohrte. »Stimmt es?«, fragte sie unvermittelt. »Ist es wahr, dass er den Schatten Leben einhauchen kann?«
    »Ja«, gestand ich.
    Ihre Schultern sackten noch tiefer. Dann stieß sie meinen Arm weg, als wäre er Schmutz. »Hau ab.«
    »Ich brauche deine Hilfe, Baghra.«
    »Ich sagte: Hau ab .«
    »Bitte. Ich muss wissen, wo der Feuervogel zu finden ist.«
    Ihr eingefallener Mund bebte leise. »Ich habe meinen Sohn schon einmal verraten, kleine Heilige. Glaubst du wirklich, ich würde es ein zweites Mal tun?«
    »Du wolltest ihn aufhalten«, sagte ich zögernd. »Du …«
    Baghra knallte ihren Stock auf den Boden. »Ich wollte verhindern, dass er sich in ein Ungeheuer verwandelt! Aber dafür ist es nun zu spät, nicht wahr? Dank dir ist er weiter denn je von der Menschlichkeit entfernt. Er wird keine Erlösung mehr finden.«
    »Vielleicht«, gab ich zu. »Aber Rawka ist noch zu retten.«
    »Was geht mich dieses elende Land an? Hältst du die Welt für so wunderschön, dass sie unbedingt gerettet werden müsste?«
    »Ja«, sagte ich. »Und ich weiß, dass du es genauso siehst.«
    »Was du weißt, ist keinen Pfifferling wert, Mädchen.«
    »Gut!« Meine Verzweiflung gewann die Oberhand über meine Schuldgefühle und ich sagte: »Ich bin eine Idiotin. Ich bin eine Närrin. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Und darum brauche ich deine Hilfe.«
    »Dir ist nicht mehr zu helfen. Deine einzige Hoffnung bestand in der Flucht.«
    »Erzähl mir, was du über Morozow weißt«, flehte ich. »Hilf mir, den dritten Kräftemehrer zu finden.«
    »Ich weiß nicht, wo der Feuervogel zu finden ist, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht verraten. Ich habe nur noch zwei Wünsche: Ich will ein warmes Zimmer und ich möchte in Ruhe sterben.«
    »Ich könnte dir dein Zimmer nehmen«, brauste ich auf. »Und dein Feuer und deinen braven Diener. Vielleicht würde dich das zum Sprechen bringen.«
    Ich hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da bereute ich sie schon. Tiefe Scham erfüllte mich. Hatte ich tatsächlich gerade einer blinden, alten Frau gedroht?
    Baghra lachte ihr heiseres, gurgelndes Lachen. »Offenbar findest du Gefallen an der Macht. Je mehr du hast, desto mehr wirst du begehren. Gleiches ruft Gleiches, Mädchen.«
    Bei ihren

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