Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
das, was er vor langer Zeit unter dem eingesackten Dach einer alten Scheune zu mir gesagt hatte: Das Zeitalter, in dem die Macht der Grischa alles beherrschte, neigt sich dem Ende entgegen.
Paja räusperte sich. »Und was wird aus den Schattenwesen, wenn wir den Dunklen töten?«
Ich hätte sie am liebsten geherzt. Ich wusste auch nicht, was im Fall unseres Sieges über den Dunklen mit den Nitschewo’ja passieren würde. Vielleicht würden sie sich in Luft auflösen, vielleicht würden sie auch wie verrückt toben und rasen, aber sie hatte es ausgesprochen: Wenn wir den Dunklen töten . Das klang zögernd und furchtsam, aber auch verdächtig nach einem Fünkchen Hoffnung.
Wir beschäftigten uns vor allem mit der Verteidigung von Os Alta. Die Stadt besaß ein altes System von Sturmglocken, die den Palast alarmierten, wenn der Feind in Sicht kam. Nikolaj ließ mit Erlaubnis seines Vaters schwere Geschütze wie jene an Bord der Kolibri oberhalb der Stadt und auf den Palastwällen aufstellen. Obwohl die Grischa murrten, ließ ich einige auf dem Dach des Kleinen Palastes in Stellung bringen. Sie würden die Nitschewo’ja nicht aufhalten, aber ihren Ansturm bremsen.
Die anderen Grischa begannen allmählich, die Fabrikatoren zu schätzen. Die Materialki versuchten mit Hilfe der Inferni, Grenatki zu entwickeln, deren Lichtblitze die Schattenwesen stoppen oder wenigstens blenden würden. Die Schwierigkeit bestand darin, auf Schießpulver zu verzichten, das ringsumher alles und jeden zerstört hätte. Manchmal beschlich mich die Befürchtung, dass die Materialki den Kleinen Palast in die Luft jagen und dem Dunklen so die Arbeit abnehmen würden – wiederholt sah ich im Speisesaal Grischa mit angebrannten Ärmeln oder versengten Augenbrauen. Ich bat sie, den riskanteren Teil der Arbeit am Seeufer und im Beisein von Flutern zu erledigen, die im Notfall eingreifen konnten.
Nikolaj war fasziniert von diesem Projekt und wollte sich unbedingt daran beteiligen. Die Fabrikatoren behandelten ihn zunächst wie Luft und versuchten danach, ihm zu Gefallen zu sein, merkten aber schließlich, dass er kein Prinz war, der sich aus Langeweile einmischte. Er verstand nicht nur Davids Ideen, sondern hatte auch so lange mit den unabhängigen Grischa zusammengearbeitet, dass er sich rasch der Sprache der Kleinen Künste bedienen konnte. Die Grischa schienen seinen Rang und seinen Otkazat’ja -Status bald zu vergessen und man konnte ihn immer wieder in den Werkstätten der Materialki tüfteln sehen.
Am berunruhigendsten fand ich die Experimente, die hinter den rot lackierten Türen der Anatomiesäle stattfanden. Dort versuchten die Korporalki gemeinsam mit den Fabrikatoren, menschliche Knochen mit Grischa-Stahl zu verbinden. Das geschah, damit Soldaten einen Angriff der Nitschewo’ja heil überstanden. Doch der Prozess war schmerzhaft und unvollkommen, und oft stieß der Körper der Versuchsperson das Metall wieder ab. Die Heiler halfen nach Kräften, aber die gellenden Schreie der Freiwilligen aus der Ersten Armee hallten immer wieder durch die Flure des Kleinen Palastes.
Die Nachmittage waren von endlos langen Sitzungen im Großen Palast ausgefüllt. Die Macht der Sonnenkriegerin war ein Pfund, mit dem Rawka beim Schmieden von Bündnissen mit anderen Ländern wuchern konnte, und deshalb wurde ich immer wieder zu den Verhandlungen der Diplomaten gebeten, um meine Macht vorzuführen und zu beweisen, dass es mich wirklich gab. Die Zarin lud zum Tee oder Diner und auch zu diesen Anlässen musste ich erscheinen. Nikolaj kam häufig vorbei, um Komplimente zu machen, schamlos zu flirten und wie ein hingebungsvoller Verehrer beschützend um meinen Stuhl zu schwirren.
Am zermürbendsten waren die »Strategiegespräche« mit den Beratern und Befehlshabern des Zaren. Der Zar selbst nahm fast nie daran teil. Er verbrachte seine Tage lieber damit, jungen Dienerinnen nachzuhumpeln oder zu schlummern wie ein alter Kater. Während seiner Abwesenheit drehten sich die Gespräche seiner Berater endlos im Kreis. Sie erörterten, ob man Frieden mit dem Dunklen schließen oder Krieg gegen ihn führen solle. Sie plädierten erst für ein Bündnis mit den Shu, dann für eines mit den Fjerdan. Sie diskutierten die Zahlen eines jeden Budgets, von der Menge an Munition bis zu den Frühstückszutaten für die Truppe. Trotzdem wurde so gut wie nie etwas entschieden oder gar gehandelt.
Als Wassili hörte, dass Nikolaj und ich an diesen Sitzungen teilnahmen,
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