Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
wollte auch er unbedingt dabei sein, obwohl er seine Pflichten als Thronerbe jahrelang ignoriert hatte. Nikolaj hieß ihn zu meiner Überraschung begeistert willkommen.
»Welche Erleichterung«, rief er. »Vielleicht blickst du ja durch.« Er zeigte auf die Unterlagen, die sich hinten auf dem Tisch türmten.
»Was ist das?«, fragte Wassili.
»Der Antrag auf die Instandsetzung eines Aquädukts in der Nähe von Tschernitsin.«
»All das wegen eines einzigen Aquädukts?«
»Keine Sorge«, erwiderte Nikolaj. »Ich lasse alle anderen Papiere in deine Gemächer bringen.«
»Was? Es gibt noch mehr? Kann denn nicht einer der Minister …«
»Du weißt doch, was los war, nachdem unser Vater die Regierungsgeschäfte anderen überlassen hatte. Wir müssen wachsam bleiben.«
Wassili griff so geziert nach dem ersten Formular, als wäre es ein schmutziger Lumpen. Ich musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht lauthals zu lachen.
»Wassili glaubt, er könnte regieren wie unser Vater«, vertraute Nikolaj mir später am Nachmittag an, »indem er Bankette veranstaltet und gelegentlich eine Rede hält. Ich werde dafür sorgen, dass er begreift, was es heißt, ohne den Dunklen oder den Asketen zu regieren, die die Zügel in der Hand halten.«
Das klang nach einem guten Plan, aber es dauerte nicht lange, da verfluchte ich beide Prinzen. Wassili sorgte dafür, dass die Sitzungen doppelt so lange dauerten. Er protzte und prahlte, kommentierte jedes Thema, hielt lange Vorträge über Vaterlandsliebe, Strategie und die Finessen der Diplomatie.
»Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so viel redet und doch nur heiße Luft ablässt«, sagte ich wütend zu Nikolaj, der mich nach einer besonders quälenden Sitzung zum Kleinen Palast begleitete. »Kannst du denn nichts dagegen tun?«
»Zum Beispiel?«
»Sorge dafür, dass ihn eines seiner preisgekrönten Rennpferde gegen den Kopf tritt.«
»Ich bin mir sicher, dass sie oft versucht sind, genau das zu tun«, sagte Nikolaj. »Wassili ist eitel und faul, und er geht gern den Weg des geringsten Widerstands, aber ein Land zu regieren bedeutet einfach harte Arbeit. Glaub mir: Er wird bald die Nase voll haben.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Aber bis dahin bin ich an Langeweile gestorben.«
Nikolaj lachte. »Dann bring einen Flachmann mit und trink jedes Mal einen Schluck, wenn er sein Fähnlein wieder in den Wind hängt.«
Ich stöhnte. »Eine Stunde, und ich wäre sternhagelvoll.«
Mit Nikolajs Hilfe holte ich Waffenexperten aus Poliznaja, die die Grischa mit modernen Waffen vertraut machen und im Umgang mit Feuerwaffen unterweisen sollten. Anfangs gab es gewisse Spannungen, aber nach einer Weile lief es besser. Wir hofften, dass sich zumindest ein paar Freundschaften zwischen Angehörigen der Ersten und der Zweiten Armee entwickeln würden. Die Einheiten aus Grischa und Soldaten, die man zusammengestellt hatte, um den Dunklen bei seinem Vormarsch auf Os Alta aufzuspüren, machten die größten Fortschritte. Wenn sie von einer Übungsmission zurückkehrten, strahlten sie eine ganz neue Kameradschaft aus und rissen Witze. Sie begannen sogar, sich Nolniki zu nennen, Nullen, weil sie genau genommen weder zur Ersten noch zur Zweiten Armee gehörten.
Die Frage, wie Botkin auf die vielen Veränderungen reagieren würde, hatte mir schwer im Magen gelegen. Aber der Mann schien ein Händchen für das Töten zu haben, egal auf welche Weise, und er freute sich über jede Ausrede, die es ihm ermöglichte, mit Tolja und Tamar über Waffen zu fachsimpeln.
Da die Shu die schlechte Angewohnheit hatten, ihre Grischa mit dem Skalpell zu sezieren, gab es von diesen nur wenige Überlebende in der Zweiten Armee. Botkin unterhielt sich liebend gern in seiner Muttersprache, war aber auch ganz allgemein begeistert von der ungestümen Art der Zwillinge. Im Gegensatz zu den im Kleinen Palast aufgewachsenen Grischa verließen sich die beiden nicht nur auf ihre Fähigkeiten als Entherzer, sondern betrachteten diese als eine weitere Waffe in ihrem beeindruckenden Arsenal.
»Gefährlicher Junge. Gefährliches Mädchen«, bemerkte Botkin, der den Zwillingen beim Übungskampf gegen eine Gruppe Korporalki zusah, während eine Schar nervöser Beschwörer darauf wartete, an diesem Vormittag an die Reihe zu kommen. Marie und Sergej waren da und Nadja stand wie immer in ihrer Nähe.
»Fie ift noch flimmer alf er«, klagte Sergej. Tamar hatte seine Lippe aufgeschlagen, was ihm das Sprechen erschwerte.
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