Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Herz eine kleine Kapriole.
Wir hielten uns nur kurz in der Sakristei auf, denn die paar Bücher in den Regalen waren sehr unergiebig. Es handelte sich um einen Stapel alter Gesangbücher mit vergilbenden, zerbröselnden Seiten. Nur das große Triptychon hinter dem Altar, dessen vielfarbig gemalte Tafeln dreizehn Heilige mit gütigen Gesichtern zeigten, war von Interesse. Ich erkannte ein paar Heilige aus den Istorii Sankt’ja wieder: Lisaweta mit den blutigen Rosen, Pjotr mit den brennenden Pfeilen, Sankt Ilja mit Halseisen, Handschellen und zerrissenen Ketten.
»Keine Tiere«, bemerkte Maljen.
»Er wird eigentlich immer nur mit den Ketten dargestellt, nicht mit den Kräftemehrern. Außer in den Istorii Sankt’ja .« Warum das so war, blieb mir ein Rätsel.
Das Triptychon war recht gut erhalten, nur die Tafel mit Ilja war durch Wasser stark beschädigt worden. Die Gesichter der darauf dargestellten Heiligen waren kaum noch zu erkennen, der muffige Schimmelgeruch war schier überwältigend. Ich drückte mir einen Ärmel auf die Nase.
»Hier regnet es irgendwo rein«, sagte Maljen. »Diese Kapelle ist eine Bruchbude.«
Ich betrachtete Iljas von Schimmel und Schmutz entstelltes Gesicht. Noch eine Sackgasse. Ich gestand es mir ungern ein, aber ich war mit meinem Latein am Ende. Wieder spürte ich dieses Ziehen, diese Leere an meinem Handgelenk. Wo hielt sich der Feuervogel auf?
»Wir könnten hier den ganzen Tag stehen«, sagte Maljen, »aber er würde uns trotzdem nichts erzählen.«
Er machte zwar nur Spaß, aber ich spürte einen Hauch von Zorn in mir. Schwer zu sagen, ob ich ihm oder mir selbst zürnte.
Als wir durch den Mittelgang zurückkehren wollten, blieb ich wie angewurzelt stehen. Der Dunkle saß vor dem Eingang auf einer im Schatten liegenden Kirchenbank.
»Was ist?«, fragte Maljen und folgte meinem Blick.
Ich stand vollkommen reglos da und wartete. Sieh ihn , flehte ich insgeheim. Bitte sieh ihn auch.
»Alina? Stimmt etwas nicht?«
Ich bohrte meine Fingerspitzen in die Handfläche. »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Sollten wir nicht doch noch einmal in der Sakristei nachschauen?«
»Dort gibt es sowieso nichts.«
Ich zwang mich, lächelnd weiterzugehen. »Ja, du hast wohl Recht. Ist nur Wunschdenken.«
Als wir am Dunklen vorbeigingen, drehte er sich zu uns um, legte einen Finger vor die Lippen und senkte den Kopf wie zu einem Gebet.
Sobald wir aus der muffigen Kapelle in die frische Luft getreten waren, ging es mir besser, aber meine Gedanken überschlugen sich. Es war wieder passiert.
Der Dunkle hatte keine Narben im Gesicht gehabt. Maljen hatte ihn nicht gesehen. Was wohl hieß, dass der Dunkle nicht wirklich, sondern nur eine Vision war.
Und doch hatte er mich neulich in seinem Gemach berührt. Ich hatte seine Finger auf der Wange gespürt. Wie konnte das angehen, wenn er nur eine Halluzination war?
Mich fröstelte, während wir durch den Wald gingen. Handelte es sich um eine Manifestation der neuen Macht des Dunklen? Es wäre grauenhaft, wenn er es geschafft hätte, in meine Gedanken einzudringen, aber die andere Möglichkeit war noch grauenhafter. Wenn du die Gesetze dieser Welt verletzt, hat das seinen Preis. Ich drückte das Armband gegen meine Seite und spürte die Schuppen auf meiner Haut. Vergiss diesen wahnsinnigen Morozow. Vielleicht hatte all das gar nichts mit dem Dunklen zu tun. Vielleicht wurde ich langsam verrückt.
»Maljen«, begann ich, ohne genau zu wissen, was ich sagen wollte, »der dritte Kräfte–«
Er legte einen Finger vor die Lippen, eine Geste, die mich so sehr an den Dunklen erinnerte, dass ich fast gestolpert wäre. Im nächsten Augenblick hörte ich ein Rascheln, und dann tauchte Wassili zwischen den Bäumen auf.
Ich hatte den Prinzen immer nur im Großen Palast gesehen und war so verdutzt, dass ich wie erstarrt dastand. Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, verneigte ich mich.
Wassili nickte mir zu, ohne Maljen eines Blickes zu würdigen.
»Moj Tsarewitsch«, sagte ich zur Begrüßung.
»Alina Starkowa«, erwiderte der Prinz lächelnd. »Ich würde mich freuen, wenn du mir ein wenig Zeit schenken könntest.«
»Selbstverständlich.«
»Ich gehe voran«, sagte Maljen und warf Wassili einen misstrauischen Blick zu.
Der Prinz sah ihm nach. »Der Fahnenflüchtige hat offenbar gelernt, wo sein Platz ist.«
Ich schluckte meinen Zorn hinunter. »Was kann ich für Euch tun, moj Tsarewitsch ?«
»Bitte«, sagte er, »es wäre
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