Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Richtung kam, schien er einen Duft nach Lammklößen oder Sauerkirschbaba aus dem Wald mit sich zu bringen. Das klang zwar verrückt, aber Nadja hatte es auch gerochen, während sie auf der Veranda neben ihrer Mutter gesessen und versucht hatte, ihr Suppe einzuflößen. Das Aroma von kandierten Walnüssen, Kürbis und braunem Zucker war ihr in die Nase gestiegen und sie hatte sich dabei ertappt, dass sie die Treppe hinunter und bis zu den lauernden Schatten der Bäume gelaufen war, die seufzten und schwankten, als wollten sie sich für sie auftun.
Dumme Mädchen, denkt man da, man selbst würde nie so närrisch sein. Aber haben wir jemals hungern müssen? Die Ernten der letzten Jahre waren reich und die Erinnerung an magere Zeiten verblasst im Nu. Man vergisst, dass Mütter ihre Säuglinge in der Wiege erstickten, weil sie die hungrigen Schreie nicht mehr ertrugen, oder dass sich der Fallensteller Leonid Gemka während der zwei Monate, die er in seiner eingeschneiten Hütte verbrachte, am Unterschenkel seines erschlagenen Bruders gütlich tat.
Wenn die alten Weiber auf der Veranda von Baba Olja saßen, beäugten sie den Wald und murmelten: Khitka . Bei diesem Wort sträubten sich die Haare auf Nadjas Armen, aber da sie kein Kind mehr war, lachte sie gemeinsam mit ihrem Bruder über das Altweibergewäsch. Die Khitki waren launische Waldgeister, rachsüchtig und blutdürstig, doch laut der Legenden raubten sie keine Mädchen im heiratsfähigen Alter, sondern Neugeborene.
»Wer weiß, woher ihr Appetit kommt?«, sagte Baba Olja und schwenkte eine gichtige Hand. »Vielleicht ist dieser Khitka eifersüchtig. Oder wütend.«
»Vielleicht findet er unsere Mädchen besonders appetitlich«, sagte der einbeinige Anton Kozar, der gerade vorbeihumpelte, und ließ die Zunge anzüglich hin und her schnellen. Die alten Weiber kreischten wie Gänse und Baba Olja warf mit einem Stein nach ihm. Ob Kriegsveteran oder nicht – dieser Mann war widerwärtig.
Als Nadjas Vater erfuhr, dass die alten Frauen tuschelten, Duwa sei verflucht, und vom Priester verlangten, auf dem Marktplatz seinen Segen zu spenden, schüttelte er nur den Kopf.
»Ein Raubtier«, sagte er entschieden. »Ein Wolf, den der Hunger in den Wahnsinn getrieben hat.«
Er kannte die Gegend wie seine Westentasche, und so griffen er und seine Freunde zu den Gewehren und begaben sich mit grimmiger Entschlossenheit in den Wald. Sie konnten nichts entdecken, und das Getuschel der alten Weiber wurde lauter. Welches Tier hinterließ keine Spuren, keine Pfotenabdrücke, keine Schleifspur der Beute?
Im Dorf wuchs das Misstrauen. War der lüsterne Anton Kozar nicht von der Nordfront zurückgekehrt, noch dazu stark verändert? Der Halbstarke Peli Jerokin war seit eh und je ein brutaler Kerl. Und Bela Pankin, die mit dem sonderbaren Uri auf ihrem Hof lebte, war eine sehr kauzige Frau. Ein Khitka konnte jede beliebige Gestalt annehmen. Vielleicht hatte sie die Puppe des verschwundenen Mädchens gar nicht »gefunden«.
Als Nadja vor dem Grab ihrer Mutter stand, bemerkte sie das lüsterne Grinsen Antons und seinen suppenden Beinstumpf, Bela Pankins sorgenvolle Miene, den drahtigen Peli Jerokin, der mit geballten Fäusten und wirrem Haarschopf dastand, das mitfühlende Lächeln der verwitweten Karina Stojanowa, die Nadjas Vater aus schönen, dunklen Augen unverwandt ansah, während der Leichnam seiner Frau in die harte Erde gesenkt wurde. Ja, Khitki konnten jede beliebige Gestalt annehmen, aber sie bevorzugten die einer schönen Frau.
Bald danach begann Karina Nadjas Vater zu umschwirren. Sie brachte ihm Essen und Kwass und flüsterte ihm ins Ohr, dass er jemanden brauche, der für ihn und seine Kinder sorge. Hawel würde bald mit der Eisenbahn nach Poliznaja fahren, um seinen Militärdienst anzutreten, aber da war ja noch Nadja.
»Du möchtest doch sicher nicht«, sagte Karina mit warmer, honigsüßer Stimme, »dass sie dir Schande macht.«
Später an diesem Abend ging Nadja zu ihrem Vater, der am Feuer saß und Kwass trank. Wenn er nichts zu tun hatte, schnitzte er manchmal Puppen für Nadja, obwohl sie längst zu alt dafür war. Sein scharfes Messer sauste rastlos hin und her und Holzlocken segelten auf den Fußboden. Er fühlte sich eingesperrt. Im Sommer und im Herbst war er seiner kranken Frau zuliebe daheim geblieben, obwohl er sich sonst zu jener Zeit stets auf die Suche nach Arbeit begeben hatte. Nun würden wegen des Schneefalls die Straßen bald unpassierbar sein.
Weitere Kostenlose Bücher