Grischa: Goldene Flammen
ihn an. Erlegen musst du ihn, Alina«, sagte er.
»Warte«, flüsterte ich und legte ihm eine Hand auf den Arm.
Der Hirsch trabte langsam in unsere Richtung und blieb ein paar Schritte vor uns stehen. Ich sah, wie sich seine Flanken hoben und senkten, sah das Beben seiner Nüstern, seinen Atem in der kalten Luft.
Er betrachtete uns aus Augen, die dunklen Teichen glichen. Ich ging auf ihn zu.
»Alina!«, flüsterte Maljen.
Der Hirsch lieà zu, dass ich mich ihm näherte. Er wich auch nicht aus, als ich eine Hand auf seine warme Schnauze legte. Nur seine Ohren zuckten und sein Fell leuchtete milchig weià in der zunehmenden Dunkelheit. Ich dachte an alles, was Maljen und ich aufgegeben, an die Risiken, die wir auf uns genommen hatten. Ich dachte an die wochenlange Suche nach der Herde, die kalten Nächte, die tagelangen, mühsamen Märsche, und ich war froh darüber. Froh, an diesem kalten Abend lebendig auf dieser Lichtung zu stehen. Froh, Maljen an meiner Seite zu haben. Ich sah in die dunklen Augen des Hirsches und ahnte, wie sich die Erde unter seinen Hufen anfühlte, wie ihm der Duft der Tannen in die Nüstern stieg, wie machtvoll sein Herz schlug. Und ich wusste, dass ich nicht diejenige sein wollte, die seinem Leben ein Ende setzte.
»Alina«, drängte Maljen leise, »wir haben nicht viel Zeit. Du weiÃt, was du zu tun hast.«
Ich schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick von den dunklen Augen des Hirsches zu lösen. »Nein, Maljen. Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
Da ertönte ein Pfeifen und gleich darauf ein dumpfer Laut, als sich ein Pfeil in die Brust des Hirsches bohrte. Das Tier bäumte sich auf und knickte dann ein. Ich stolperte zurück, während der Rest der Herde in den Wald floh. Maljen stand sofort neben mir, den Bogen im Anschlag, und im nächsten Moment wimmelte die Lichtung von Opritschki in ihren dunkelgrauen, fast schwarzen Uniformen und Grischa in Rot und Blau.
»Du hättest auf ihn hören sollen, Alina.« Die Stimme erklang kalt und klar zwischen den Bäumen, und dann trat der Dunkle auf die Lichtung. Er lächelte grimmig. Seine Kefta flatterte wie ein rabenschwarzer Schatten.
Der Hirsch lag auf der Flanke im Schnee. Er atmete schwer und hatte die Augen in Panik aufgerissen.
Maljen handelte schneller, als ich gucken konnte. Er zielte auf den Hirsch und schoss, aber ein Stürmer im blauen Gewand trat vor und lieà eine Hand durch die Luft sausen. Der Pfeil wurde abgelenkt und landete im Schnee.
Maljen wollte nach einem zweiten Pfeil greifen, doch in diesem Moment warf der Dunkle beide Hände aus und lieà ein Band aus Finsternis auf uns zuflattern. Ich hob meine Hände und zertrümmerte es mit einem Lichtstrahl.
Aber das war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Der Dunkle drehte sich zu dem Hirsch um und reckte den Arm auf eine Art, die ich nur zu gut kannte. »Nein!«, schrie ich und warf mich, ohne weiter darüber nachzudenken, vor den Hirsch. Ich schloss die Augen, machte mich darauf gefasst, entzweigerissen zu werden, aber der Dunkle schien sich im letzten Moment weggedreht zu haben. Hinter mir platzten laut krachend Bäume, finstere Tentakel ringelten sich aus klaffenden Schnitten. Er hatte mich und damit auch den Hirsch verschont.
Der Dunkle wirkte zutiefst ergrimmt. Er klatschte wuchtig in die Hände und eine gewaltige schwarze Wand rollte heran und hüllte sowohl uns als auch den Hirsch ein. Ich handelte sofort und formte mein Licht zu einer leuchtenden, pulsierenden Glocke, die Maljen und mich umgab, das Dunkel abwehrte und die Angreifer blendete. Für kurze Zeit passierte nichts. Sie konnten uns nicht sehen, wir konnten sie nicht sehen. Das Dunkel umwogte die Glocke aus Licht in dem Versuch, sie zu durchbrechen.
»Beeindruckend«, sagte der Dunkle wie aus weiter Ferne. »Baghra hat dich viel zu gründlich unterrichtet. Aber du bist dieser Sache nicht gewachsen, Alina.«
Da ich wusste, dass er mich auch hiermit nur ablenken wollte, ging ich nicht darauf ein.
»Du! Fährtenleser! Willst du unbedingt für sie sterben?«, rief der Dunkle. Maljen verzog keine Miene. Er hielt den Bogen mit aufgelegtem Pfeil im Anschlag und bewegte sich langsam im Kreis, um den Dunklen auszumachen. »Eine rührende Szene, die wir da miterleben durften«, höhnte der Dunkle. »Hast du ihm alles erzählt, Alina? Weià dieser junge Mann, wie willig du
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