Grischa: Goldene Flammen
innezuhalten.
»Mantel öffnen«, befahl der Dunkle.
Ich regte mich nicht.
Der Dunkle nickte Iwan zu. Maljen schrie auf und drückte beide Hände gegen seine Brust, dann brach er zusammen.
»Nein!«, schrie ich und wollte zu Maljen rennen, aber die beiden Wachen hielten mich mit eisernem Griff. »Bitte«, flehte ich den Dunklen an. »Er darf ihm nichts tun!«
Der Dunkle nickte wieder und Maljen hörte auf zu schreien. Er lag schwer atmend im Schnee, den hasserfüllten Blick auf Iwans höhnisch verzogene Miene gerichtet.
Der Dunkle sah mich ausdrucklos, fast gelangweilt an. Ich schüttelte die Opritschki ab. Dann wischte ich zitternd die Tränen aus meinen Augen, knöpfte den Mantel auf und lieà ihn über die Schultern gleiten.
Ich spürte benommen, wie die Kälte durch mein Wollhemd drang, bemerkte die wachsamen Blicke der Soldaten und der Grischa. Meine Welt war auf die geschwungenen Geweihteile zusammengeschrumpft, die der Dunkle hielt, und ein Gefühl des Grauens schlug über mir zusammen wie eine Welle.
»Hoch mit dem Haar«, murmelte er. Ich schob meine Haare hinten im Nacken mit beiden Händen nach oben.
Der Dunkle trat vor und zog mein Hemd weg. Als seine Fingerspitzen meine Haut berührten, zuckte ich zusammen. Ich sah, wie ein wütender Ausdruck sein Gesicht überflog.
Er legte mir die geschwungenen Geweihteile um den Hals, unendlich behutsam und so, dass ihre Enden auf meinem Schlüsselbein ruhten. Er nickte erneut und ich spürte, wie David nach den Geweihteilen griff. Vor meinem geistigen Auge sah ich den nun hinter mir stehenden Fabrikator, der so konzentriert dreinschaute wie damals, als ich ihm in den Werkstätten des Kleinen Palastes zum ersten Mal begegnet war. Ich sah, wie sich die zwei Geweihteile bewegten und dann miteinander verschmolzen. Ohne Haken, ohne Verschluss. Ich würde diesen Schmuck für immer tragen müssen.
»Fertig«, flüsterte David. Er lieà das Geweih los und ich merkte, wie es sich schwer auf meinen Nacken legte. Ich ballte die Fäuste und wartete.
Nichts geschah und wider besseres Wissen durchzuckte mich Hoffnung. Vielleicht hatte sich der Dunkle geirrt? Vielleicht war der Reif wirkungslos?
Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter und in meinem Inneren ertönte ein Befehl: Licht. Ich hatte das Gefühl, als würde eine unsichtbare Hand in meine Brust greifen.
Goldenes Licht brach aus mir heraus und überflutete die Lichtung. Ich sah, wie der Dunkle geblendet die Augen verengte und siegesgewiss, ja triumphierend strahlte.
Nein!, dachte ich und versuchte das Licht loszulassen, mich von seiner Macht abzukoppeln. Doch die unsichtbare Hand erstickte meinen Gedanken an Widerstand, als wäre er nichts.
Dann ertönte noch ein Befehl in mir: Mehr. Ein neuer Schub der Macht durchbrauste meinen Körper, wilder und stärker als je zuvor, und er lieà nicht nach. Die Kontrolle, die ich mir antrainiert, die Erkenntnisse, die ich gewonnen hatte â all das brach angesichts dieser Wucht in sich zusammen wie viel zu wackelig gebaute, brüchige Gebäude. Alles wurde in dieser Flut zertrümmert, die sich der Macht des Hirsches verdankte. Eine Lichtwelle nach der anderen brach aus mir heraus. Der Nachthimmel war plötzlich taghell. Die Freude und die Euphorie, die mich immer erfüllt hatten, wenn ich meine Macht eingesetzt hatte, blieben aus, denn ich kontrollierte sie nicht mehr und hatte das Gefühl, hilflos zu ertrinken. Ich war gefangen in einem grausigen, unsichtbaren Griff.
Der Dunkle hielt mich in diesem Griff und erprobte meine neuen Fähigkeiten. Wie lange, wusste ich nicht, aber irgendwann spürte ich, wie die unsichtbare Hand ihren Griff lockerte.
Die Lichtung wurde wieder dunkel. Ich holte rasselnd Luft, versuchte zu mir zu kommen. Im flackernden Fackelschein konnte ich die ehrfurchtsvollen Mienen der Wachen und Grischa erkennen, und ich sah Maljen, der wie ein Häufchen Elend am Boden lag und mich mit tiefem Bedauern betrachtete.
Als ich wieder zum Dunklen sah, musterte er mich aus schmalen Augen. Er schaute von mir zu Maljen und befahl dann: »Legt ihn in Ketten.«
Ich wollte etwas einwenden, aber auf einen Blick von Maljen hin schwieg ich.
»Wir bleiben über Nacht hier und machen uns bei Tagesanbruch zur Schattenflur auf«, sagte der Dunkle. »Benachrichtigt den Asketen. Er soll sich bereithalten.« Er wandte sich an mich.
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