Grischa: Goldene Flammen
»Falls du versuchst, dir etwas anzutun, wird der Fährtenleser dafür büÃen.«
»Und was ist mit dem Hirsch?«, fragte Iwan.
»Verbrennt den Kadaver.«
Ein Ãtheralki hob einen Arm, der zur Fackel wurde. Die Flamme schoss in hohem Bogen durch die Luft und hüllte den toten Hirsch ein. Als sie uns von der Lichtung führten, waren nur unsere Schritte und das Knistern der Flammen zu hören. Das Laub der Bäume raschelte nicht, kein Nachtvogel rief, kein Nagetier regte sich. Der Wald verharrte in stummer Trauer.
Wir marschierten über eine Stunde ohne ein Wort. Ich stapfte durch den Schnee, starrte wie betäubt auf meine Stiefel und dachte an den Hirsch und daran, welchen Preis ich für meine Schwäche bezahlen musste. Irgendwann sah ich Feuerschein zwischen den Bäumen und wir traten auf eine Lichtung. Man hatte mehrere Zelte aufgeschlagen und vorne im Wald waren Pferde angepflockt worden. Zwei Opritschki aÃen ihre abendliche Mahlzeit am Feuer, das den Mittelpunkt des Lagers bildete.
Maljen wurde zu einem Zelt gestoÃen. Ich wollte seinen Blick auffangen, aber er verschwand zu schnell im Inneren, gefolgt von seinem Bewacher.
Iwan zerrte mich quer durch das Lager in ein anderes Zelt, in dem mehrere Schlafstätten hergerichtet worden waren. Er gab mir einen Stoà und zeigte auf den Mittelpfosten. »Hinsetzen«, befahl er. Ich gehorchte und er band meine Hände hinter dem Rücken zusammen und fesselte meine FüÃe.
»Na, ist das gemütlich?«
»Du kennst seine Pläne, Iwan.«
»Sein Plan lautet Friede.«
»Aber zu welchem Preis?«, fragte ich verzweifelt. »Das ist doch Wahnsinn.«
»Wusstest du, dass ich zwei Brüder hatte?«, fragte Iwan mit plötzlichem Ernst. »Nein, natürlich nicht. Sie wurden nicht als Grischa geboren. Sie waren Soldaten und beide starben in den Kriegen des Zaren. Wie mein Vater. Wie mein Onkel.«
»Das tut mir leid.«
»Oh ja, das tut allen leid. Dem Zaren tut es leid. Der Zarin tut es leid. Mir tut es leid. Aber nur der Dunkle kann etwas gegen dieses Sterben tun.«
»Warum mit dieser Strategie, Iwan? Er könnte meine Macht auch benutzen, um die Schattenflur zu zerstören.«
Iwan schüttelte den Kopf. »Der Dunkle weiÃ, was getan werden muss.«
»Wenn er einmal von dieser Macht gekostet hat, wird er nie genug davon bekommen! Und das weiÃt du. Ich trage jetzt den Reif. Aber er wird euch alle in die Knie zwingen. Und dann wird es niemanden mehr geben, der sich ihm in den Weg stellt, nichts, was ihn noch aufhalten könnte.«
Auf Iwans Kinn zuckte ein Muskel. »Wenn du weiter gegen ihn hetzt, knebele ich dich«, sagte er und verlieà das Zelt ohne ein weiteres Wort.
Bald darauf schlüpften ein Beschwörer und ein Entherzer in das Zelt. Beide waren mir unbekannt und beide wichen meinem Blick aus. Sie wickelten sich stumm in ihre Felle und pusteten die Lampe aus.
Ich sah im Dunkeln zu, wie der Schein des Lagerfeuers über die Zeltplanen tanzte. Ich spürte das Gewicht des Reifs im Nacken und ich hatte das dringende Bedürfnis, daran zu reiÃen, aber meine Hände waren ja gefesselt. Ich dachte an Maljen, der nicht weit entfernt in einem anderen Zelt saÃ.
All das hier hatte ich uns eingebrockt. Wenn ich den Hirsch erlegt hätte, wäre seine Macht auf mich übergegangen. Ich hätte wissen müssen, was uns mein Mitleid kosten würde: meine Freiheit, Maljens Leben. Unzählige andere Leben. Trotzdem war ich nicht stark genug gewesen, um das Erforderliche zu tun.
In dieser Nacht träumte ich von dem Hirsch. Ich sah immer wieder, wie der Dunkle ihm die Kehle durchschnitt. Ich sah, wie das Leben aus seinen schwarzen Augen wich. Aber wenn ich den Blick senkte, war es mein Blut, das den Schnee rot färbte.
Ich erwachte mit einem Ruck. Ringsumher waren die Geräusche des erwachenden Lagers zu hören. Die Zeltklappe flog auf und eine Entherzerin erschien. Sie löste meine Fesseln und zerrte mich auf die FüÃe. Da ich die ganze Nacht in einer verkrampften Haltung verbracht hatte, war mein Körper steif und meine Beine waren wackelig.
Die Entherzerin führte mich zu den Pferden, die man schon gesattelt hatte. Der Dunkle unterhielt sich leise mit Iwan und den anderen Grischa. Ich sah mich suchend nach Maljen um und wurde fast panisch, als ich ihn nicht entdeckte. Dann sah ich, wie er von einem Opritschnik aus
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