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Grischa: Goldene Flammen

Grischa: Goldene Flammen

Titel: Grischa: Goldene Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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Angewohnheit.«
    Er drehte meine Hand um und untersuchte sie im Dämmerlicht des Flurs. Dann strich er über die blasse Narbe, die sich quer über meine Handfläche zog, und ich wurde von einem vibrierenden, sirrenden Gefühl durchzuckt.
    Â»Woher stammt diese Narbe?«, fragte er.
    Â»Aus … aus Keramzin.«
    Â»Dort bist du aufgewachsen, nicht wahr?«
    Â»Ja.«
    Â»Ist der Fährtenleser auch eine Waise?«
    Ich holte ruckartig Luft. Konnte er Gedanken lesen? Aber dann fiel mir ein, dass Maljen im Zelt der Grischa ausgesagt hatte.
    Â»Ja«, sagte ich.
    Â»Taugt er etwas?«
    Â»Wie?« Ich konnte mich kaum konzentrieren. Der Dunkle ließ seinen Daumen unablässig über die Narbe auf meiner Handfläche gleiten.
    Â»Als Fährtenleser. Ist er gut darin?«
    Â»Es gibt keinen besseren«, antwortete ich aufrichtig. »In Keramzin haben die Leibeigenen immer gesagt, er könne die Spuren von Kaninchen sogar auf Felsen verfolgen.«
    Â»Ich frage mich manchmal, ob wir unsere Gaben jemals richtig verstehen«, murmelte er.
    Dann ließ er meine Hand los und öffnete die Tür. Er trat beiseite und verneigte sich kurz.
    Â»Gute Nacht, Alina.«
    Â»Gute Nacht«, stieß ich hervor.
    Ich schlüpfte geduckt in einen schmalen Flur. Kurz darauf hörte ich, wie die Tür hinter mir geschlossen wurde.

Am nächsten Morgen hatte ich so schrecklichen Muskelkater, dass ich kaum aus dem Bett kam. Trotzdem stand ich auf und ließ noch einmal alles über mich ergehen. Und noch einmal. Und noch einmal. Die Tage wurden immer schlimmer und frustrierender, aber ich durfte nicht aufgeben. Ich war keine Kartenzeichnerin mehr, und was sollte ich tun, wenn es mir nicht gelang, eine Grischa zu werden?
    Ich dachte an die Worte, die der Dunkle damals unter dem halb verfallenen Dach der Scheune gesprochen hatte: Du bist seit sehr langer Zeit mein erster Hoffnungsschimmer. Er hielt mich wirklich für die Sonnenkriegerin. Er glaubte tatsächlich, dass ich ihm bei der Zerstörung der Schattenflur helfen konnte. Wenn mir das gelänge, müssten sich weder Soldaten noch Kaufleute oder Fährtenleser jemals wieder diesen Gefahren aussetzen.
    Aber während sich die Tage dahinschleppten, kam mir diese Vorstellung immer lächerlicher vor.
    Ich verbrachte unzählige Stunden in Baghras Hütte, machte Atemübungen und nahm schmerzhafte Körperhaltungen ein, die meine Konzentration fördern sollten. Sie versorgte mich mit Büchern und Tee und schlug mich immer wieder mit ihrem Stock, aber nichts half. »Muss ich dich denn erst schneiden, Mädchen?«, rief sie enttäuscht. »Muss ich dir von einem Inferni die Hölle heißmachen lassen? Dich als Futter für diese Ausgeburten der Hässlichkeit in die Schattenflur werfen?«
    Genauso schlimm wie mein tägliches Scheitern bei Baghra waren die Qualen, denen Botkin mich unterwarf. Er jagte mich kreuz und quer über das Palastgelände, scheuchte mich durch den Wald und die Hügel hinauf und hinunter, bis ich fast zusammenbrach. Er übte Faustkampf mit mir und wollte mir beibringen, wie ich mich beim Fallen richtig abrollte. Ich war am ganzen Körper mit Schrammen und blauen Flecken übersät und sein ewiges Genörgel tat mir in den Ohren weh: zu langsam, zu schwach, zu mager.
    Â»Botkin kann nicht bauen Haus aus Zweigen so klein!«, brüllte er und quetschte meinen Oberarm. »Essen musst du!«
    Aber ich hatte keinen Hunger. Der Appetit, den ich nach dem fast tödlichen Kampf auf der Schattenflur gehabt hatte, war mir mittlerweile völlig vergangen. Nichts schmeckte mir mehr. Trotz meines bequemen Bettes schlief ich schlecht und hatte das Gefühl, durch die Tage zu taumeln. Die Verschönerung, der Genja mich unterzogen hatte, war fast verflogen, meine Wangen waren wieder fahl, meine Haare stumpf und schlaff und die Ringe unter den Augen waren zurück.
    Baghra meinte, dass die Unfähigkeit, meine Macht aufzurufen, mit Schlafmangel und fehlendem Appetit zu tun hatte. »Ist es nicht viel zu mühsam, mit gefesselten Füßen zu laufen? Oder mit einer Hand vor dem Mund zu reden?«, predigte sie. »Warum vergeudest du deine Kraft mit dem Kampf gegen dein wahres Wesen?«
    Aber das tat ich nicht. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Mir war jede Gewissheit abhandengekommen. Ich war mein ganzes Leben lang schwach und verwundbar gewesen. Jeder Tag hatte

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