Grischa: Goldene Flammen

sich angefühlt wie ein Kampf. Wenn Baghra Recht hatte, würde sich all das ändern, sobald ich meine Gabe als Grischa beherrschte. Falls mir das jemals gelang. Bis dahin steckte ich in einer Sackgasse.
    Ich wusste, dass die anderen Grischa über mich tuschelten. Die Ätheralki probierten am Seeufer gern gemeinsam neue Arten der Nutzung von Wind, Wasser und Feuer aus, und sie durften auf keinen Fall merken, dass ich nicht einmal meine eigene Macht im Griff hatte. Also erfand ich jedes Mal, wenn sie mich dazubaten, eine neue Ausrede und schließlich luden sie mich nicht mehr ein.
    Abends saßen sie im Kuppelsaal, tranken Tee oder Kwass, planten Wochenendausflüge nach Balakirew oder in eines der anderen Dörfer im Umkreis von Os Alta. Ich durfte nicht mit, weil der Dunkle ständig Attentate befürchtete, und diese Ausrede kam mir sehr gelegen. Je mehr Zeit ich mit den Beschwörern verbringen würde, desto eher würden sie mir auf die Schliche kommen.
    Ich sah den Dunklen selten und meist aus der Ferne, beim Kommen oder Gehen oder tief in Gespräche mit Iwan oder den Militärberatern des Zaren versunken. Von den anderen Grischa erfuhr ich, dass er sich nie lange im Palast aufhielt, sondern meist zwischen Schattenflur und Nordgrenze pendelte. Manchmal reiste er nach Süden, weil dort Plünderer der Shu-Han vor dem Wintereinbruch Dörfer überfielen. Hunderte von Grischa waren überall in ganz Rawka stationiert und er war für alle verantwortlich.
    Er sprach mich nie an, gönnte mir nicht einmal einen Blick. Sicher wusste er von meinen ausbleibenden Fortschritten und vielleicht ahnte er, dass sich die Sonnenkriegerin auf ganzer Linie als Versagerin entpuppen würde.
    Wenn ich nicht unter dem Drill Baghras oder Botkins litt, saß ich in der Bibliothek und quälte mich durch Bücher über die Theorie der Grischa. Ich bildete mir ein, ihr Tun im Kern zu verstehen. ( Unser Tun , verbesserte ich.) Alles auf dieser Welt konnte in die gleichen kleinen Teilchen zerlegt werden. Was wie Zauberei wirkte, war in Wahrheit eine Manipulation der Elemente auf grundlegendster Ebene.
    Marie zauberte kein Feuer aus dem Nichts. Stattdessen versammelte sie die brennbaren Elemente der Luft und entflammte sie mit dem Funken eines Feuersteins. Auch Grischa-Stahl war nicht Magie zu verdanken, sondern dem Geschick der Fabrikatoren, die weder Hitze noch Werkzeuge brauchten, um Metall zu bearbeiten.
    Ich begriff zwar, was wir taten, verstand aber nicht, wie wir es taten. Das Grundprinzip der Kleinen Künste lautete »Gleiches ruft Gleiches«, aber danach wurde es schwierig. Odinakowost war »Dieses«, das alle Dinge einander anglich. Etowost war »Jenes«, das alle Dinge voneinander unterschied. Odinakowost verband die Grischa mit der Welt, aber Etowost sorgte dafür, dass sie eine besondere Gabe für Luft oder Blut oder, wie in meinem Fall, für Licht besaßen. Mir schwirrte der Kopf bei diesen Begriffen.
    Eines prägte sich mir jedoch ein: Das Wort, das die Philosophen für jemanden benutzten, der ohne die Gaben der Grischa geboren wurde, lautete Otkazat’ja , »Verlassener«. Das war ein anderes Wort für Waise.
    Eines späten Nachmittags – ich kämpfte mich gerade durch einen Absatz, in dem es um die Verteidigung der Handelsrouten durch die Grischa ging – spürte ich jemanden neben mir. Als ich den Kopf hob, sah ich den Asketen über mir aufragen; seine riesigen schwarzen Pupillen leuchteten ganz besonders intensiv.
    Ich duckte mich auf den Stuhl und sah mich in der Bibliothek um. Bis auf uns beide war sie leer und mir war plötzlich kalt, obwohl die Sonne durch die Glaskuppel schien.
    Er setzte sich neben mich. Der Muff seiner Kutte wehte mich an und der feuchtkalte, gruftartige Geruch hüllte mich ein. Ich versuchte durch den Mund zu atmen.
    Â»Hast du Spaß am Lernen, Alina Starkowa?«
    Â»Ja, sehr«, log ich.
    Â»Das freut mich«, sagte er. »Aber vergiss nicht, dass nicht nur der Geist Nahrung braucht, sondern auch die Seele. Ich bin der spirituelle Beistand für all jene, die sich innerhalb dieser Palastmauern aufhalten. Ich hoffe, dass du keine Scheu davor hast, mich aufzusuchen, falls dich jemals Ängste oder Sorgen plagen.«
    Â»Das werde ich tun«, sagte ich. »Ganz bestimmt.«
    Â»Gut, gut.« Beim Lächeln enthüllte er gelbe Zähne. Sein Gaumen war so schwarz wie der eines